Flammkuchen und überaus wohlschmeckende Mixgetränke sind die Spezialität des „Hugo Ball". Ab April sollen ab 11 Uhr vormittags auch Tartines, Suppen, Salate und Kuchen angeboten werden.
Im Sommer kann es passieren, dass sich Geishas oder Füchse im Vorgarten des „Hugo Ball" ihren Flammkuchen oder Salat schmecken lassen. Normalerweise sitzen aber nicht nur verkleidete Cosplayer aus den Conventions im nahen Estrel-Hotel, sondern den Berliner Gepflogenheiten entsprechend gekleidete Menschen in dunklem, jedoch ansonsten unauffälligem Streetstyle in dem Lokal. Trinken ihren Wein oder ihr Bier zu einer „Karawane" oder zu einem „Lomini". Die seltsam klingenden Flammkuchen sind nicht mit Fantasienamen bezeichnet, sondern lediglich nach Lautgedichten des Wortakrobaten Hugo Ball. Der Dichter und Dada-Künstler hätte gewiss seine Freude daran gehabt, wie ihm in „seiner" Flammerie und Bar gehuldigt wird: mit originellen Gästen, spontanen Musik-Gigs sowie unkompliziertem Essen und Trinken.
Das „Hugo Ball" ist eben seit beinah drei Jahren eine Anlaufstelle für vielfältige Gäste aus der Rixdorfer Nachbarschaft. Wir haben im „Hugo Ball", in dem durch einen Rundbogen abgetrennten Nebenraum, unser vorweihnachtliches Redaktionstreffen abgehalten: Flammkuchen gut, Stimmung gut, Abend gut. Das wiederholen wir an einem anderen Abend für diesen Artikel und zwar im großen Gastraum. Dort lassen wir uns unter einer dunklen Collage unter der Decke und in der wärmenden Nähe des Flammkuchen-Ofens nieder und uns im Gespräch mit den Besitzern Lisa Ravery und Florian Metzger die feineren Verwandten von Pizza, die Salate und Süßes schmecken.
Wir rufen Camille vom Service nach dem Blick auf die Karte ein begeistertes „Laulita" zu: Der nach einem Halbwort aus dem Ball’schen Lautgedicht „Gadji beri bimba" benannte Flammkuchen ist mit Ofenkürbis, Thymiankartoffeln, Walnüssen, roten Zwiebeln und Lauchzwiebeln belegt. In seiner veganen Variante mit einer Creme aus Seidentofu heißt er folgerichtig nach der zweiten Worthälfte „Lomini". Darauf ein herzhaftes „Loo" – und gut, dass die ebenfalls im Gedicht verarbeiteten „Elefantolim" und „Rhinozerossola" nicht als Belag Verwendung gefunden haben!
Sämtliches Fleisch in Bio-Qualität
Bei „King Louis" liegen allenfalls heimische Tiere auf dem Teig. „Dekadent mit luftgetrocknetem Schinken, Ziegenkäse, Walnüssen, Ofenkürbis, Apfel, roten Zwiebeln und Schnittlauch" wird uns der König angekündigt. Seit Kurzem ist sämtliches Fleisch bio und stammt aus artgerechter Haltung. „Es war uns wichtig, das jetzt konsequent umzusetzen", sagt Lisa. Die Preise stiegen ein bisschen, „aber weniger als einen Euro". Die Flammkuchen werden allesamt frisch gemacht, „auch der Teig", betont Florian. Wer am Tresen sitzt, kann zuschauen, wie der Fladen dünn ausgerollt und belegt wird. Wieso gerade Flammkuchen? Weil Lisa auch französische Wurzeln hat? „Man weiß es gar nicht mehr richtig, irgendwann war es so", sagt Florian. „Wir ergänzen uns mit dem ‚Geschwister Nothaft‘ nebenan. Sie machen in ihrem Café in süß, wir in salzig."
Herzhafte vegane Varianten wie der „philosophische" Tristan Tzara mit „Cherry-Tomätchen", Aubergine, roten Zwiebeln und Haselnüssen oder der deftige „Knollenknüller" mit Thymian-Kartoffeln, Kapern, Schalotten, roten Zwiebeln und Knoblauchöl haben ihren festen Platz auf der Karte. „Wir sind voll inklusiv", sagt Florian. „Wir wollen ein Ort sein, an dem man mit Freunden aller Glaubensrichtungen sein kann." Religiöse kulinarische Fehden könnten jedenfalls recht günstig beigelegt werden. Die Flammkuchen sind zwischen 7,30 Euro für den klassischen „Hans Arp" mit Schalotten, Speck, Frühlingszwiebeln sowie Rucola und dem üppigen „King Louis" mit Schinken und Ziegenkäse für elf Euro kalkuliert. Die Salat-Schalen kosten in klein von fünf bis sieben Euro, in groß von sechs bis 9,20 Euro.
Die roten Zwiebeln, die hinterm Tresen auf ihren Einsatz warten, treiben einem gelegentlich die Tränen in die Augen. „Flammkuchen ohne Zwiebeln geht einfach nicht", sagt Lisa. Das stimmt nicht ganz. Florian hat Lust darauf, eine süß-knusprige „Marie Anton-Nette" mit hauchdünnen Apfelscheiben, Sauerkirschen, Pistazien, Honig und Zimt mit uns zu teilen. Gut, dass die französische Königin eine Verfechterin des Feingebäcks war. Der süße Flammkuchen ist ein leichter Vertreter, der die Süße und das Aroma der Früchte transportiert, ohne sich mit Schwere im Teig zu belasten. Mit einem Espresso dazu ist „Marie Anton-Nette" die optimierte Leichtvariante eines traditionellen Apfelkuchens.
Das „Hugo Ball" verbreitet mit seinen Wohlfühlgerichten in eher schummeriger Illuminierung eine Stimmung von „Historie 2.0": Die Inneneinrichtung ist dunkel und wohnzimmerig-kneipig. Man fragt sich: Ist das von anno 1904, aus der Bauzeit des Hauses und original aus der vorherigen Gaststätte? So wie die Rundbogenfenster mit Einfachverglasung oder die braunen Holzpaneele auf den Toiletten. Oder ist es einfach so gut neu gemacht, dass es „schon immer alt" wirkt? So wie die Collage in Hannah-Höch-Art, die erst vor einem Jahr Stück für Stück unter die Decke des Hauptraums geklebt wurde. In dem Erdgeschoss des gekrümmten Eckgebäudes befanden sich jedenfalls schon immer Lokale – zuletzt die „S-Bahn-Klause". „Eine ganz einfache Gaststätte, in der die Neuköllner Arbeiter zu Mittag essen konnten", erzählt Florian. Den Vor-Vorbesitzer lernten Lisa und er zufällig kennen und konnten so die Geschichte des Lokals bis in die 60er-Jahre zurückverfolgen. In jedem Fall ist das „Hugo Ball" noch älter als die Dada-Bewegung, die deutsche Künstler im Jahr 1916 in Zürich im „Cabaret Voltaire" ins Leben riefen. Dazu passt, dass Florian von Hause aus Kontrabassist und Tubist ist und mit ihm die Musik nicht nur in der Swing-Band „Dizzy Birds" spielt. Immer mal wieder werden die Tische vor dem Klavier in der Ecke beiseite geräumt, und dann wird spontan gemuckt.
Ab 22 Uhr wird’s feucht-fröhlich
Lisa dagegen kommt aus der Theaterszene, arbeitete im Künstler-Booking und in der Organisation. „Als Musiker hat man immer mit Gastronomie zu tun, da rutscht man irgendwie mit rein, auch von der konsumierenden Seite", sagt Florian. „Aber auch von der Gastroseite aus", ergänzt Lisa. „Das ‚Hugo Ball‘ ist die Umsetzung eines Lebensgefühls, das älter ist als der Laden selbst", sagt Florian. „Der Laden ist das Herz. Der Ort, wo man sich trifft. Man baut sich das Drumherum, das man mag. Macht das Essen, das man mag, und die Drinks, die man gern trinkt", betont Lisa.
Bei mir ist das bei den Kaltgetränken ganz klar ein „Berry Bramble": Tanqueray Gin, Himbeeren als Püree und Dekor-Frucht, Zitrone und Rohrzucker vereinen sich in einem eisbeschlagenen Tumbler. Das Getränk ist kalt, stark und etwas „blütig". Die Begleiterin ist eine Freundin vom „Rosemary Jackass", einer gurkenfreien Spielart des „Moscow Mule" aus Russian Standard Vodka und hausgemachter Ingwer-Rosmarin-Limonade. Sämtliche Limonaden sind zudem selbst gemacht und eine attraktive Alternative für nicht an Alkohol Interessierte. Wenn ab 22 Uhr der Ofen ausgeschaltet wird, ist noch lange nicht Schluss. Das „Hugo Ball" begreift sich ausdrücklich als Bar, und es wird bis in die Nacht hinein gemixt, geschüttelt und gerührt. Und getrunken.
Weltoffen, kreativ, ironisch gebrochen und überraschend, so wie die sehr späte Variante des kulinarischen Dadaismus eben zu sein hat, geht es auch bei den Salaten zu. Wir beißen in „Ramses der V. (Vegane)": Blattsalate, Basilikum, Cherrytomaten, geröstete Haselnüsse geben sich mit Auberginen und Datteln in der China-Schale ein Stelldichein. Die Vinaigrette ist hervorragend abgeschmeckt und entschieden fruchtig-süßsauer. Ganz gleich, ob als zahnlückiger „Marquis de Chèvre" mit Ziegenkäse und Schinken oder als „Don Giovanni" mit Parmesan – vor so einer ausdrucksstarken Salatschale sehe ich mich bei wärmeren Temperaturen unter der Pergola sitzen. Der Vorgarten am halbkreisförmigen Siegfried-Aufhäuser-Platz direkt gegenüber vom S-Bahnhof bietet immerhin Raum für 40 Gäste; im Inneren finden 70 Personen Platz. Ab April öffnet das „Hugo Ball" erstmals ab 11 Uhr. Lisa, Florian und ihre zwölfköpfige Truppe, allesamt aus dem Freundeskreis, wollen Tartines, Suppen, Salate und Kuchen anbieten. Nur das für die „Flammerie" charakterische Gericht bleibt weiter dem Abend vorbehalten, denn: „Flammkuchen braucht Zeit", sagt Florian.
In bester Dada-Manier verbindet das „Hugo Ball" in wilder Mixtur Widersprüchliches: Altes und Neues. Unkomplizierte Gerichte und Drinks in richtig guter Qualität mit einfacher Darreichung. Künstlerische Optionen, die aber nicht jederzeit ausgereizt werden müssen. Wer seinen Spaß daran hat, liest die Geschichte und den Hintergrund mit. Und wer nicht, hat einfach eine gute Zeit bei gutem Essen und Trinken in einer im besten Sinne alltagstauglichen Atmosphäre.