1931 erlebte die neuseeländische Stadt Napier eines der bis heute schwersten Erdbeben. Doch die Menschen bauten sie wieder auf und feiern seitdem die Wiedergeburt ihrer Heimat mit einem bunten Art-déco-Festival, das Besucher aus der ganzen Welt anzieht.
Es ist das größte Art-déco-Ereignis weltweit. Besucher und Fans einer längst vergangenen Epoche reisen dafür extra nach Neuseeland. Einmal im Leben, denn die Anreise aus Europa ist lang und anstrengend. Ich durfte dabei sein. Sich in die Zeit von Gatsby und Co. zurückzuversetzen, ist ein besonderes Erlebnis und unvergesslich. Im Rahmen meiner Neuseelandreise gehörten die Tage in Napier sicher zu den Höhepunkten meiner Tour durch Ozeanien.
Doch nun zu den Anfängen des Festivals. Es war am Vormittag des 3. Februar 1931 als plötzlich die Erde bebte. Eine Stärke von 7,8 zeigte die Richterskala. Es dauerte nur wenige Minuten, doch diese veränderten das Leben der Einwohner von Napier für immer. Ihre Heimat wurde fast komplett zerstört. Die Überlebenden des Erdbebens fanden ihre Häuser nur noch als Schutthaufen vor. Große Verzweiflung machte sich breit. Mit einem Mal war das gewohnte Leben in dem Ort am Meer vorbei. Die Idylle und Beschaulichkeit des Städtchens auf der neuseeländischen Nordinsel waren innerhalb weniger Minuten zerstört worden. Doch nicht nur Napier hatte es getroffen, sondern auch die Nachbarorte Hastings und Havelock North. Insgesamt gab es 258 Tote und 3.000 Verletzte. Zahlreiche Nachbeben erschwerten die Aufräumarbeiten, am 13. Februar 1931 war es mit der Stärke 7,3 am schlimmsten.
In nur zwei Jahren stand die Stadt wieder
Die Menschen waren verzweifelt. Doch der Alltag ging weiter, und die Bewohner bekamen bald wieder neuen Lebensmut. Die Herren Louis Hay, E. A. Williams, Natush & Sons sowie Finch & Westerman, alles lokale und sehr innovative Architekten, sahen ihre Stunde gekommen. Denn sie wollten die Stadt wiederaufbauen. Eine ganz besondere sollte es werden. Jedes der Architektenteams vertrat dabei einen eigenen Stil. Und durch geschickte Verknüpfung konnten sich diese vier Stile doch zu etwas ganz Einmaligem verbinden. So der Plan der engagierten Truppe. „Ausprobieren", hieß ihre Devise. Man war sich schnell einig und die Bauvorhaben wurden in die Tat umgesetzt. Es dauerte nur zwei Jahre und die Stadt erstrahlte in neuem Glanz. „Bei den vier Architektur-Richtungen handelte es sich um den Prairie-, Art déco-, Spanish Mission- und Stripped Classical-Stil", betont Stadtführerin Pamela. Und somit erstand das neue Napier wie Phönix aus der Asche.
Seitdem wird jeden Februar gefeiert. Menschen aus aller Welt kommen des Festes wegen nach Neuseeland. Im Gepäck haben sie die schönsten 20er- und 30er-Jahre Modellkleider. In den Händen runde Hutschachteln mit den passenden Accessoires. Logiert wird stilvoll im „Masonic Haus", im „Provincial Hotel" oder wer es etwas günstiger haben will im „Criterion Hotel". Und wer noch nicht das richtige Outfit dabei hat, der geht mal schnell zu Charleston Chic. Dort lässt man sich beraten und geschmackvoll einkleiden.
Auch Hunde swingen mit
Ein Muss sind die Veranstaltungen. Beispielsweise das „Depression Dinner" oder „Cabaret" in „Ruby’s Room" in Hamilton, das romantische „Gatsby-Picknick" für Groß und Klein, eine ausschweifende Prohibitionsparty, die berühmte Oldtimer-Parade und natürlich Tanzstunden mit Vintage-Flair. Auch Haustiere swingen mit. Die Hunde-Modenschau ist das jährliche Highlight für modebewusste Frauchen und Herrchen.
Pamela deutet auf ein Straßencafé. Elegant gekleidete Damen im Ginger-Rogers-Stil und Herren im Fred-Astaire-Look genießen ihre Pink Ladys oder – ganz klassisch – Martinis on the Rocks. Die sie umgebenden Gebäude haben kantige Stuckfassaden mit farbigen Bleiglasfenstern. Eine Dame mittleren Alters präsentiert sich im göttlichen Garbo-Look auf einem schmiedeeisernen Balkon, lächelt und winkt ihren Freundinnen zu, die vor dem prachtvollen Gebäude der National Tobacco Company flanieren. Napier selbst ist zur Legende geworden. Die Stadt repräsentiert eine vollständige und zugleich die wohl bedeutsamste Gruppe von Art-déco-Gebäuden auf der ganzen Welt.
Zwischen den dekorativen Häuserzeilen werden Erinnerungen an die Kulturepoche der wilden 20er des vergangenen Jahrhunderts wach. Es ist wie eine unvergessliche Reise in diese Zeit. Und die 60.000 Einwohner des Städtchens an der Pazifikküste machen mit. Sie leben den Stil, viele von ihnen sogar das ganze Jahr über. Denn einige bewohnen immer noch Häuser, deren Flügeltüren mit Lampen aus Milchglas und Stahlrohr versehen sind. Genau wie damals. Und sie genießen immer noch den Lifestyle dieser versunkenen Epoche europäischen und amerikanischen Glamours. Der Besucher kann sich die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen somit anschaulich vorstellen. Erinnerungen an ein vergangenes Berlin, New York oder Paris werden geweckt und verbinden sich mit der Nostalgie einer verschwundenen Ära.
Pamela führt ihre Gäste in die Emerson Street zu den eleganten Bronze-Figuren von Miss Sheila Williams und ihrem Hund. Nachgebildet wurde damit die Tochter des Architekten Williams, der für den Aufbau der Stadt mitverantwortlich war. Sheila hat sich einen Namen gemacht und ist berühmt geworden. Denn 1933 hatte sie die Idee zu einer ausgelassenen Karnevalsfeier in Napier, um den Neubeginn der Stadt zu feiern. Und alle machten mit, zeigten Hoffnung und neuen Lebensmut. Ihr gegenüber klettert ein kleiner Junge einen Laternenpfahl hoch und winkt ihr zu. Er ist auch aus Bronze. Beide Figuren wurden von dem neuseeländischen Künstler Mark Whyte mit viel Feingefühl entworfen.
Die Flaniermeile am Meer wird zur Kulisse
Mit der Figur Pania erinnert die Stadt an ihre Maori-Vergangenheit. Sie ist eine mythologische Figur der Ureinwohner und heute Wahrzeichen von Napier.
Pamela erzählt, dass die im Jahr 1954 an der Strandpromenade errichtete Statue 2005 gestohlen, später jedoch wieder aufgefunden und an ihren ursprünglichen Platz zurückgebracht wurde. Auch die Flaniermeile am Meer ist während des Festivals die passende Kulisse für die Gatsbys der heutigen Zeit und der Damen im Stil von Greta Garbo, Marlene Dietrich und Bette Davis. Denn die meisten der von weither oder aus Übersee angereisten Besucher werden nur einmal im Leben dabei sein können. Für sie werden diese Tage unvergesslich bleiben.