Der Gemütszustand gestandener Genossen lässt sich am besten in der einstigen „Herzkammer der Sozialdemokratie" besichtigen. In Nordrhein-Westfalen steckt die SPD nach der eigenen Landtagswahlniederlage in einem schieren Existenzkampf der einst so stolzen Partei.
Das ist kein politischer Aschermittwoch wie jeder andere, knarzt der westfälische SPD-Bezirkschef Norbert Römer, als er seine 700 Genossen im Schwerter Ausflugslokal „Freischütz" begrüßt. Hier ist nach dem Zweiten Weltkrieg der einst machtvolle SPD-Bezirk Westliches-Westfalen gegründet worden. Für gestandene Sozis eine Art Wallfahrtsort. Im legendären „Freischütz" hatten sie Martin Schulz vor Jahresfrist am Aschermittwoch zum „Gott-Kanzler" ausgerufen und hymnisch gefeiert: „Glückauf, Glückauf, der Martin kommt."
Ein Jahr später haben führende Strategen der NRW-SPD den dilettierenden Parteichef und selbst ernannten Außenminister vom Hof gejagt. Ihm sei an diesem Aschermittwoch nicht nach „Jubelveranstaltung" und „SPD-Party", bekennt Römer, „dazu waren die letzten zwölf Monate zu schlecht, die Wahlniederlagen zu bitter und die letzten Tage und Wochen zu chaotisch".
An der SPD-Basis gab es „Gefühlswallungen"
Während des laufenden SPD-Mitgliederentscheids über die Große Koalition macht sich im größten Landesverband an Rhein und Ruhr Katerstimmung breit. Inmitten dieser Depression ruft SPD-Landeschef Michael Groschek zu einem „Schwur von Schwerte" auf. „In den nächsten 30 Jahren werden wir uns nie wieder gestatten, zwischen ‚Hosianna‘ und ‚Kreuzigt ihn‘ zu lavieren!", beschwört Groschek seine Genossen. „Wir sind Sozialdemokraten und keine, die judasmäßig agieren."
Immerhin steht die nordrhein-westfälische SPD im Verdacht, den am Ende ungeliebten Schulz maßgeblich demontiert und schließlich erfolgreich zum Verzicht auf das Außenminister-Amt gedrängt zu haben. Am Freitag vor Karneval hatten mehrere Spitzenpolitiker der NRW-SPD Schulz damit gedroht, ihm öffentlich das Vertrauen zu entziehen – in zeitgleich verschickten Pressemitteilungen. Konfrontiert mit diesem Ultimatum aus seinem eigenen Landesverband hatte der designierte Bundesaußenminister schließlich entnervt das Handtuch geworfen, kurz bevor die angedrohten Mails rausgehen sollten.
Der westfälische Obergenosse Römer, zugleich SPD-Fraktionschef im Düsseldorfer Landtag, zählte zu den schärfsten Schulz-Kritikern in dem mitgliederstärksten SPD-Landesverband. Er sei nunmehr seit 50 Jahren in der SPD und habe in all den Jahren niemals erlebt, dass ein Vorsitzender die Sozialdemokratie so sehr „verunsichert" habe wie Schulz, ließ Römer dem Noch-Parteivorsitzenden ausrichten. Der 70-jährige SPD-Stratege gilt als ein enger politischer Weggefährte von Sigmar Gabriel und einflussreicher Strippenzieher auf Bundesparteitagen. In kleinen Runden hatte Römer über den SPD-Parteichef frühzeitig geklagt, er sei zu sprunghaft, konzeptions- und orientierungslos.
Spätestens nachdem Schulz mit dem Abschluss der Koalitionsverhandlungen seinen Anspruch auf das Bundesaußenministerium erhoben hatte, stand Römer mit seiner Kritik am SPD-Vorsitzenden längst nicht mehr alleine. „Das Programm von Martin Schulz heißt Martin Schulz", ätzte eine prominente Funktionärin der NRW-SPD. Bei den Sozialdemokraten an Rhein und Ruhr machte sich massiver Widerstand gegen den SPD-Politiker aus dem rheinischen Würselen breit. An der Basis laufe eine „sehr emotionale Diskussion", gestand SPD-Landeschef Groschek einen Tag vor dem Putsch. Es gebe „Gefühlswallungen und manche Faust auf dem Tisch" wegen des vermeintlichen Wortbruchs von Schulz. Der hatte noch vor wenigen Wochen erklärt, dass er keinesfalls in ein Kabinett mit einer Kanzlerin Angela Merkel (CDU) eintreten werde.
Der Sinneswandel sei zu einem „Glaubwürdigkeitsproblem" geworden, beklagte Groschek. In turbulenten Telefonkonferenzen vor dem Karnevalswochenende sollen vor allem die Bezirkschefs die Führung der NRW-SPD bedrängt haben, Schulz zum Rückzug zu bewegen. Andernfalls drohe die Annahme des Koalitionsvertrages beim Mitgliederentscheid zu scheitern.
Mit 115.000 Mitgliedern stellen die Genossen in Nordrhein-Westfalen ein Viertel aller Parteimitglieder und damit den einflussreichsten Landesverband. Im Vorfeld des Mitgliederentscheids hat die NRW-SPD insgesamt 6.015 neue Mitglieder aufgenommen. Einen solchen Zulauf binnen weniger Wochen hatte es zuvor in der Geschichte der Landespartei niemals gegeben. Die Kampagne der Groko-Gegner war überaus erfolgreich.
Groschek hat lange öffentlich zu Schulz gestanden. Vor sechs Monaten habe ihn die Partei „noch als kommenden Kanzler auf Händen" getragen und als „Mister Europa" gefeiert. Jetzt zögen die gleichen Genossen seine Befähigung zum Außenminister in Zweifel. Da stelle sich „eine Glaubwürdigkeitsfrage" für die Mitglieder, griff Groschek die eigene Basis an Altweiberfastnacht an. Ein Rückzug von Schulz, um so eine klare Zustimmung zum Koalitionsvertrag zu erreichen, komme für ihn nicht infrage: „Irgendwann ist Schluss mit Brückenbauen."
„Aus dem verfluchten 20-Prozent-Ghetto raus"
Dann aber zeigte er sich sichtlich erleichtert, als Römer und andere Strippenzieher tags darauf Schulz via Ultimatum zum Rückzug zwangen. Damit leiste Schulz „einen notwendigen Beitrag dazu, die Glaubwürdigkeit der SPD zu stärken". Jetzt müsse es darum gehen, „die vielen positiven Inhalte des Koalitionsvertrages in den Mittelpunkt" der innerparteilichen Diskussion zu rücken. Damit könnten am Ende zahlreiche Verbesserungen für die Menschen im Lande umgesetzt werden. Nichts anderes erwarteten die Bürger gegenwärtig von der SPD.
Auch nach der Schulz-Entscheidung gelten die NRW-Genossen beim Mitgliedentscheid als unsichere Kantonisten. Es sei ein gegenwärtig „weit verbreitetes Bedürfnis" in der Landes-SPD, „zunächst mal nach dem Haar in der Suppe statt nach der Suppenkelle zu suchen", berichtet Groschek. Dabei habe es in den letzten Jahrzehnten keine Partei gegeben, die mit nur 20,5 Prozent „eine so deutliche Handschrift in einen Koalitionsvertrag gebracht hat". Die betreffe die Inhalte ebenso wie die ausgehandelten Schlüsselministerien. Neben einer Partei- und Fraktionsvorsitzenden, die nicht in die Kabinettsdisziplin eingebunden sei, würde die SPD mit einem „souveränen Schatzkanzler" und einem „europapolitisch agierenden Außenminister" vorhersehbar politische Schwergewichte haben. Dies lasse es realistisch erscheinen, „dass wir aus diesem verfluchten 20-Prozent-Ghetto endlich rauskommen", sagte der Vorsitzende der NRW-SPD. „Die Drei muss stehen".
Der Applaus für die designierte starke Frau in doppelter Spitzenrolle blieb indes eher dünn und wirkte pflichtschuldig. Die Sturzgeburt von Andrea Nahles erzürnt viele Genossen. Was weniger gegen die Person der einstigen Juso-Chefin, sondern gegen die Hinterzimmer-Mauscheleien im Willy-Brandt-Haus gerichtet war. In der SPD dürfe es „keine Regentschaften und auch kein Kurfürstentum" geben, sagte Groschek. Deshalb würden solche Ämter nicht verliehen oder auf Vorschlag weitergereicht. Darüber habe ein Bundesparteitag oder ein Mitgliederentscheid zu befinden.
Maßgebliche Strategen der NRW-SPD befürchten, dass sich die Unzufriedenheit über das Verfahren bei der Nahles-Nominierung am Ende negativ auf das Mitgliedervotum zum Koalitionsvertrag auswirken könnte. Obwohl inzwischen selbst der einstige Groko-Gegner Römer für Zustimmung trommelt: „70 Prozent des Koalitionsvertrages stammen aus dem Wahlprogramm der SPD", und warnt eindringlich: „Wenn wir jetzt nicht zuschlagen, wenn wir die Koalition ausschlagen, wird noch mehr Vertrauen verlorengehen", ruft der SPD-Haudegen drohend in den Saal im Schwerter „Freischütz". „Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns davon je wieder erholen würden."