Die Band Simple Minds um Sänger Jim Kerr und Gitarrist Charlie Burchill steht für melodiöse Gitarren- und Synthie-Klänge an der Schnittstelle zwischen Rock und Pop, pathetischen Gesang und unerschütterliche Spielfreude. Zum 40. Jubiläum bringen sie das emotionale Album „Walk Betweens Worlds" heraus. Frontmann Jim Kerr im Interview.
Herr Kerr, ist „Walk Between Worlds" das offizielle Geburtstagsalbum?
Nicht wirklich. Das es rechtzeitig zu unserem Bandjubiläum fertig wurde, ist eher Zufall. Es ist schlicht und einfach das 17. Album der Simple Minds. Aber wir können nicht leugnen, dass wir jetzt 40 Jahre alt sind. Ich finde den Stand der Dinge toll, wir gehen noch immer sehr enthusiastisch ans Werk. Manchmal, wenn man eine neue Platte fertig hat, überkommt einen das Gefühl, sie ist nicht so geworden, wie man es sich erhofft hatte. Aber dieses Album hat uns wirklich Spaß gemacht.
Wird das Plattenmachen mit den Jahren leichter?
Natürlich haben wir im Lauf der Zeit sehr viele Erfahrungen gesammelt. Aber Musik ist und bleibt für mich ein Mysterium. Vor allem, weil sie nicht greifbar ist. Sie und ich haben vielleicht ein gemeinsames Lieblingslied, aber da ist immer jemand anderes, der damit überhaupt nichts anfangen kann. Ich finde gerade diese Mysteriösität faszinierend. Platten zu machen war noch nie leicht. Gleichzeitig fallen einem einige Alben leichter als andere. Es hängt immer von der momentanen geistigen Verfassung ab. Dieses Mal hatten wir ein sehr positives Gefühl im Studio und waren voller Energie.
Gab es auch Schwierigkeiten?
Charlie und ich wandeln eigentlich immer auf dem gleichen Pfad, aber es gibt auch Ausnahmen. Dann sieht er etwas ganz anderes als ich. Aber eigentlich wollen wir beide immer eine tolle Platte machen.
Wollten Sie mit dieser Platte an einen bestimmten Sound anknüpfen?
Wir mögen das Vorgänger-Studioalbum „Big Music" immer noch sehr gern und hätten einfach daran anknüpfen können. Aber Platten entwickeln oft ein Eigenleben. Die Musik diktiert, wo es langgehen soll. Wir gingen ins Studio mit dem Vibe von „Big Music" in uns, aber mit der Zeit entwickelte sich dort etwas ganz Neues, das dann zu „Walk Between Worlds" wurde.
Würde die Platte ohne den Brexit und ohne den Präsidenten Donald Trump anders klingen?
1989 haben wir das Album „Street Fighting Years" veröffentlicht. Es war der Versuch, Songs über politische Ereignisse in Südafrika, Nordirland und anderswo zu schreiben. Das wollte ich diesmal ganz bewusst nicht tun. Gleichzeitig bin ich ein Mensch, der sich für das interessiert, was auf der Welt vor sich geht. Ich versuche das alles zu verstehen, deshalb bin ich manchmal frustriert, enttäuscht, wütend. Wenn ich heute keine Songs über das Weltgeschehen schreibe, dann ist das kein Eskapismus. Was kann ich persönlich schon sagen zu dem Töten in Syrien, außer dass ich am Boden zerstört bin? Ich will auch keinen Song über den Brexit schreiben, dazu ist schon genug gesagt worden. Auch Donald Trump ist jeden Tag in der Zeitung. Nein, ich möchte lieber über andere Dinge schreiben.
Worüber denn?
Der Titelsong „Walk Between Worlds" handelt von Empathie. Darin schlüpfe ich in andere Menschen hinein und versuche zu verstehen, wie sie ihr Leben leben. Ich habe in den letzten Jahren viel Zeit in Sizilien verbracht. Dort wird man mit harten Gegensätzen von Reichtum und Armut konfrontiert. Das hat mich sehr berührt und diese Stimmung ist in irgendeiner Weise in die Musik mit eingeflossen.
Geht es Ihnen darum, Freude zu verbreiten in diesen verrückten Zeiten?
Ich möchte die Menschen unterhalten. Ich sehe mich als Entertainer und als Künstler. Ein Künstler hat die Aufgabe, sich selbst auszudrücken in der Hoffnung, dass seine Kunst auf Widerhall stößt. Diese Erfahrung mache ich selbst mit Büchern, Musik, Bildern. Kunst ist so großartig, weil sie einem das Gefühl gibt, nicht allein zu sein. Als Künstler muss man sehr belastbar sein, weil man zum Beispiel unheimlich viel Zeit auf Flughäfen verbringt. Viele finden das frustrierend. Aber ich nutze diese Zeit dafür, genau zu beobachten. Künstler sind sehr detailverliebte Menschen.
Sind Sie ein rastloser Mensch?
Ich glaube ja. Aber nicht mehr so sehr wie früher. Das hat etwas mit dem Älterwerden zu tun. Als Charlie und ich jünger waren, konnten wir es kaum erwarten, aus Schottland rauszukommen und die Welt zu entdecken. Wir lieben das Reisen immer noch. Es hat uns sehr geprägt. Aber unsere Heimat ist auch sehr speziell. Heute haben wir einen Frieden in uns gefunden, der damals noch nicht da war.
Sie werden nächstes Jahr 60. Genießen Sie Ihr Leben in Ihrem Alter?
Aber gewaltig! Ehrlich gesagt habe ich sogar den größten Teil meines bisherigen Lebens genossen. Natürlich gab es auch Enttäuschungen und schwere Zeiten, aber ich muss gestehen, dass ich großes Glück gehabt habe.
Viele Künstler sind Workaholics und können das Leben gar nicht richtig genießen ...
Auch ich bin egoistisch, was die Arbeit betrifft. Ich bin sehr ehrgeizig und arbeitete bereits an der nächsten Platte. Es tut mir leid, sagen zu müssen, dass das aktuelle Album „Walk Between Worlds" für mich bereits Geschichte ist. Ich bin wie ein Athlet, der die ganze Zeit für Olympia trainiert. Aber ab einem bestimmten Alter sollte man wissen, was gut und was nicht so gut für einen ist. Von Letzterem lasse ich lieber die Finger. In meinem Alter hat man nicht mehr alle Zeit der Welt zur Verfügung. Ich hoffe, dass ich noch eine ganze Weile lebe, aber die Zeit spielt für mich eine immer größere Rolle und ich überlege mir genau, was ich mit ihr anfange.
Ihr Kollege Iggy Pop ist über 70 und praktiziert noch immer Stagediving. Wie halten Sie es damit?
(lacht) Ich bin mal von der Bühne gefallen! Sogar zwei- oder dreimal. Das ist etwas ganz anderes als Stagediving. Iggy Pop ist ein verdammt geiler Performer. Aber auch Mick Jagger. Wie alt ist der? 73? 74? Unvorstellbar!
Was stört Sie an Ihrem Alter?
Darüber denke ich eigentlich nicht nach. Ich finde, jedes Alter hat seine Vor- und Nachteile. Natürlich würde sich jeder in meinem Alter wünschen, einen jüngeren Körper zu haben. Dann aber bitte mit meinem älteren Gehirn!
Was haben Sie in der Schule des Rock‘n‘Roll gelernt?
Gib bei jedem einzelnen Gig 100 Prozent! Auch wenn du auf Tournee bist, solltest du dir jeden Abend vorstellen, dass du nur diesen einen Gig spielst. Spiele ihn so, als sei er der einzige auf der Welt!
Was hat Ihre Wahrnehmung, Ihren Blick auf die Welt beeinflusst?
Meine ganzen Erfahrungen, meine Art zu leben, die Bücher, die ich gelesen habe und die Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin.
Was bedeuten Ihnen Ihre keltischen Wurzeln?
Sie spielen für mich eher unbewusst eine Rolle. Aber was heißt „keltische Wurzeln"? Wir haben weder Dudelsäcke noch Violinen auf unserer Platte. Als wir sie aufnahmen, war ich von Montag bis Freitag im Studio in Glasgow. Und an den Wochenenden bin ich in die schottischen Berge und an die Seen gegangen, um die Wunder der Natur zu spüren. Man muss kein Kelte sein, um das zu tun. Ich liebe einfach die schottische Natur.
Sind Sie zu Hause kreativer als anderswo?
Je älter ich werde, desto mehr habe ich den Eindruck, für mich schließt sich ein Kreis. Es fühlt sich sehr natürlich an, in Schottland Platten zu machen.
Wie denken Sie über die Unabhängigkeitsbestrebungen der Schotten?
(lacht) Wenn genug Leute zur Wahl gehen, dann soll Schottland unabhängig werden. Wenn nicht, dann nicht. Aber ich persönlich brauche die Unabhängigkeit nicht. Und meine Kinder leben in England. Wir hatten ja bereits eine Volksabstimmung, aber damals waren nicht genug Wähler von der Unabhängigkeit überzeugt. Ich übrigens auch nicht. Ich spreche von Praktikabilität und nicht von Gefühlen. Die Verantwortlichen konnten bislang nicht plausibel erklären, wie solch eine Unabhängigkeit funktionieren soll. Ich denke, eine junge, neue Generation von Wählern soll entscheiden, wie es mit Schottland weitergeht. Ich selbst entstamme zwar nicht der Hippie-Generation, aber meine Generation ist eher für ein Zusammenkommen als für ein Auseinandergehen. Ich bin ein Schotte, meine Großeltern waren Iren, meine Kinder sind Engländer, meine Freundin ist Japanerin und mein Neffe Franzose. Mein Lieblingspolitiker ist Deutscher.
Verraten Sie mir den Namen des Politikers?
Ich gebe Ihnen einen Hinweis: Es ist eine Frau!