Ob im neuen Kursangebot des Fitnessstudios, beim Arztbesuch oder beim Warten in der Apotheke – überall hört und liest man momentan von sogenannten Faszien. FORUM Gesundheit hat bei einem Experten nachgefragt, worum es eigentlich geht, warum sie momentan in aller Munde sind und was ein spezielles Faszientraining bewirken kann.
Faszien – fast jeder hat das Wort schon gehört. Aber was sich wirklich hinter dem Begriff verbirgt, wissen nur wenige. Dabei ist es eigentlich ganz einfach: „Es sind vor allem die Muskelhüllen, die man vom Fleisch kennt. Eine manchmal halb durchsichtige, milchige, manchmal undurchsichtige, weiße Hüllenschicht", erklärt Dr. Schleip, Humanbiologe und Diplom-Psychologe. Auch die menschlichen Muskeln sind in solche Hüllen eingebettet. Dadurch grenzen sie sich, trotz ihrer teilweise sehr dichten Lage, voneinander ab. „Grob gesagt handelt es sich bei den Faszien um muskuläres Bindegewebe. Es sind vor allem diese Muskelhüllen, die sich aber auch in die Muskelsehnen, Gelenkkapseln und Bänder hinein verlängern. Es gehören auch noch andere, intramuskuläre, ganz kleine Beutelchen dazu. All das fasst man unter dem Begriff Faszien oder Fasziennetzwerk zusammen", erklärt Schleip. „Für den Laien ist es ganz einfach, für den ist das Bindegewebe jetzt gleich Faszien."
Schleip ist ein weltweit führender Experte auf dem Gebiet der Faszienforschung und leitet die Fascia Research Group der Universität Ulm. Als Mitinitiator des ersten internationalen Faszien-Kongresses 2007 an der Harvard Medical School in Boston war er maßgeblich daran beteiligt, der wissenschaftlichen Welt die wichtige Rolle der Faszien im Körper deutlich zu machen. „Der Fachmann kannte die Faszien schon lange, und auch in Randgebieten wie der Osteopathie und der Naturheilkunde war die wichtige Funktion des Bindegewebes schon bekannt. Aber im Mainstream hatten die Faszien immer eine Aschenputtelrolle, was vor allem daran lag, dass man sie nur sehr schlecht messen konnte. Das hat sich 2007 mit dem sehr erfolgreichen Fascial Research Congress an der Harvard Medical School ganz dramatisch geändert. Der hat in der wissenschaftlichen Welt wie eine Bombe eingeschlagen, weil viele Forscher da mitbekommen haben, dass es zu den Faszien noch etwas zu entdecken gibt und das Bindegewebe in ganz vielen Bereichen eine sehr wichtige Rolle spielt. Damals ist unter den akademischen Forschern eine richtige Aufbruchsstimmung entstanden, und die hat sich jetzt ausgebreitet. Das liegt auch daran, dass der Ultraschall mittlerweile so gut ist, dass man zehntel Millimeter messen kann, und das braucht man eben, um eine muskuläre Faszienhülle quantitativ zu erfassen", berichtet Dr. Schleip.
Das Training kann auch die Körperwahrnehmung verbessern
Erst seit ungefähr zehn Jahren also berücksichtigt die breite Masse der Wissenschaftler die Erkenntnis, dass die Faszien nicht nur mechanische Funktionen haben und den Muskeln ihre getrennte Position geben, sondern dass das Netzwerk auch ein Sinnesorgan ist. „Das war den meisten Wissenschaftlern früher nicht bewusst. Man dachte immer, die Muskelhüllen seien so unwichtig wie eine Geschenkverpackung," sagt der Experte. Heute ist klar, dass das Fasziennetzwerk sogar das wichtigste Sinnesorgan für die Körperwahrnehmung und für Schmerzen im Bewegungsapparat ist. Man geht sogar davon aus, dass viele Arten von Rückenschmerzen eher von den Faszien als von den Bandscheiben oder den Muskeln selbst kommen. „Speziell die Rückenfaszie im menschlichen Körper ist sehr dicht mit freien Nervenenden besiedelt. Bei einer Überlastung, einer Unterforderung oder einer Verletzung können diese verfilzen und ihre normale, geordnete Geometrie zugunsten einer chaotischen Struktur aufgeben", erklärt Schleip.
Diese Veränderungen in der Fasziengeometrie können dann Schmerzen verursachen. Im Rücken ist dies am häufigsten der Fall, bei Frauen ist aber auch der Nackenbereich oft betroffen, bei Sportlern die Beine. Um die Faszien zu stärken und deren Verletzungsresistenz zu steigern, kann ein spezielles Training sinnvoll sein. „Es braucht drei Monate, damit sich das Kollagen 1, welches hier eine besonders wichtige Rolle spielt, in der Architektur verändert. Bei Jugendlichen haben die Kollagen-1-Fasern eine regelmäßige Wellung, so ähnlich wie krauses Haar. Wenn man aber älter oder zum Stubenhocker wird, gehen diese Wellen verloren, und gleichzeitig verliert man dann die Federkapazität. Nach circa dreimonatigem Faszientraining stellt sich die Wellung aber wieder ein, das konnte nachgewiesen werden. So kann Verletzungen der Faszien vorgebeugt und die Federkapazität wieder erlangt werden. Das Training kann außerdem bewirken, dass man seinen Körper im Wohlfühlbereich wieder besser spüren kann, also sich die eigene Körperwahrnehmung wieder verbessert", fasst Dr. Robert Schleip die mögliche Wirkung des Faszientrainings zusammen.
Wie aber lässt sich das Bindegewebe gezielt trainieren? Eine Möglichkeit ist die Anwendung sogenannter Faszienrollen, die aus Hartschaum bestehen und zum Beispiel nach dem Sport förderlich für die Regenration sind. Um Muskelkater, beispielsweise nach einem Ausdauerlauf, vorzubeugen, kann man sich entweder selbst mit einer solchen Rolle massieren oder für die ersten Anwendungen noch einen Fachmann zurate ziehen. Einfach die betroffenen Muskelgruppen ganz langsam schwammartig auspressen, dabei aber immer im Wohlfühlbereich bleiben und sich intuitiv leiten lassen. Vorsichtig sein sollten bei solchen Übungen jedoch Personen, die unter Venenschwäche leiden. Diese sollten die Unterbeine lieber nicht mit einer Faszienrolle behandeln oder sich in dieser Hinsicht von einem Fachmann beraten lassen.
Die zweite Möglichkeit zum Faszientraining sind räkelartige Dehnungen, bei denen man nicht ganz spezifisch einen Muskel dehnt, sondern lange Ketten, ähnlich wie beim Yoga. „Einfach mal von der Katze am Sonntagmorgen zeigen lassen", rät Schleip. „Ein Räkeln, bei dem man versucht, ein richtiges Wohlgefühl und ein Ausweitungsgefühl im Körper zu fördern, und zwar über eine möglichst große Fläche, also über mehrere Gelenke."
Eine dritte Variante des faszialen Trainings sind elastische Federungen. „Wir wollen, dass die Leute wieder Gummi-twist, Himmel und Hölle und solche schwingenden Bewegungen machen, so wie bei Turnvater Jahn. Die sind als Muskeltraining wirklich optimal und vor allem als Faszientraining kaum zu überbieten, weil man da genau die angesprochene kinetische Speicherkapazität trainiert", erklärt Dr. Schleip. Hier gilt es allerdings zu beachten, dass man solche elastischen Federungen am Anfang nicht jeden Tag machen sollte, weil die Bindegewebszellen und das Kollagen zwei Tage Zeit brauchen, um richtig darauf zu reagieren. Deswegen am besten einen eigenen Rhythmus finden und zum Beispiel montags, mittwochs und freitags ein paar Sekunden oder Minuten zum Springseil greifen.
Vorsichtig sein sollten beim faszialen Training nicht nur Personen mit Venenschwäche, sondern auch Leute mit hohem Ehrgeiz und wenig Trainingserfahrung. Letztere sollten sich die Übungen lieber vom Trainer zeigen lassen, weil es sonst aufgrund von übertriebener Ausführung der elastischen Übungen schnell zu Zerrverletzungen kommen kann.
Auch Frauen, die besonders beweglich und im Yoga besonders begabt sind, ohne täglich zu üben, sollten sich beim Faszientraining zunächst von einem Fachmann betreuen lassen. Diese neigen nämlich oft zu einem besonders weichen oder dehnbaren Bindegewebe oder auch zu Gleitwirbeln. Durch falsches Training kann es dann zu einem instabilen Rücken kommen, also zum genauen Gegenteil des gewünschten Effekts.
Für alle Menschen, die nicht in diese drei Risikogruppen fallen, gibt es zahlreiche Ratgeber zum Thema Faszientraining, darunter auch das von Dr. Robert Schleip selbst verfasste Buch „Faszien-Fitness", das unter anderem viele detaillierte Übungsbeschreibungen enthält. Der Wissenschaftler ist fest davon überzeugt, dass die Faszien zukünftig auch jenseits des Hypes in der Fitnessindustrie eine wichtige Rolle spielen werden: „Die Nachhaltigkeit des Themas wird bleiben, weil immer mehr Fachleute mitkriegen, dass das Thema interessant ist. Man beschäftigt sich jetzt sogar in der Onkologie mit den Faszien und untersucht, ob sie einen Einfluss darauf haben, wie stark sich Krebs ausbreitet."
In ganz vielen Gebieten würden die Faszien mittlerweile in die Untersuchungen und Fragestellungen miteinbezogen – und dabei binnen Wochen große Entdeckungen gemacht.