Früher sorgte das Uhrmacherhandwerk für Wohlstand in der Grenzregion zwischen dem französischen Jura und dem Schweizer Genferseegebiet. Der Schmuggel florierte – heute können Besucher unter anderem auf den Spuren von Uhrmachern und Hausierern zu authentischen Dörfern und kleinen Museen auf Schneeschuhen wandern.
Der Schnee knirscht bei jedem Schritt, und jedes Ausatmen entlässt weiße Dampfwölkchen in die klare Luft. Es ist sonnig an diesem Wintervormittag im Dörfchen Grand’Combe-Châteleu im ostfranzösischen Department Doubs nur wenige Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt. Die alten Bauernhäuser mit den dicken Mauern, teilweise aus Feldsteinen, scheinen sich unter ihren tiefgezogenen Dächern förmlich vor der Kälte wegzuducken, aus einigen der markanten hohen Schornsteinen steigt Rauch auf. Ein paar Katzen flitzen über den verschneiten Dorfplatz mit seinem alten Waschhaus, sonst ist niemand zu sehen.
Vor einem der beeindruckenden alten Häuser aber wartet bereits Odile Caron mit einem großen Schlüsselbund. Sie gehört zu einem Verein, der das Bauernmuseum von Grand’Combe-Châteleu betreut, sich um den Erhalt der Bausubstanz kümmert und Führungen anbietet.
Ob ich warm angezogen sei, will sie wissen, denn in den Wintermonaten sei es in dem Gebäude aus dem 18. Jahrhundert eiskalt. Umso besser lässt sich nachvollziehen, dass sich traditionell ein Großteil des Alltags in der Küche der Ferme abspielte, die – typisch für die Bauernhäuser der Region – quasi die unterste Ebene des sogenannten Tuyé ist, dem lang gezogenen nach oben immer schmaler werdenden Kamin, durch dessen Öffnung man heute auch noch ein Stückchen blauen Himmels sehen kann.
Originalgetreues Bauernmuseum
Auf gusseisernen Herden wurde gekocht – und im Kamin vor allem geräuchert. Denn die „Saucisse de Morteau", eine Hartwurst, gehört zu den Spezialitäten der Region, wurde hier früher quasi auf jedem Hof selbst hergestellt, für den eigenen Bedarf, aber auch für den Verkauf auf den Markt. Fast schwarz wirken die Innenwände des Kamins vom Räuchern, ja auch der steinerne Fußboden der Küche. Odile lotst mich durch eine Tür in die früheren Wohnräume der Familie. Der guten Stube ist bescheidenster Wohlstand anzusehen. In einem Wandschrank ein wenig Porzellan, eine Leinendecke auf dem Tisch, ein Raum, der sichtlich den Feierabenden und Sonntagen vorbehalten war. Dann ein Blick in die Schlafkammer nebenan – auch hier hat der Museumsverein viel Mühe darauf verwandt, alles möglichst originalgetreu und mit altem Mobiliar einzurichten. Besonders stolz ist Odile auf die alte Bettwäsche, leicht vergilbt aber dennoch von weitaus besserer Qualität, als man sie heute finden würde, lächelt sie.
Von der Schlafstube der Bauersfamilie geht es in den Mitteltrakt, der über zwei Stockwerke reicht und zwischen Wohn- und Stallteil des Gebäudes liegt. Ein halbes Dutzend Kühe stand hier früher vor hölzernen Futtertrögen, in einem abgetrennten Abteil sei zudem Platz für zwei Pferde gewesen, ergänzt Odile. Sie will mir zum Schluss der Tour noch einmal den markanten Tuyé von außen zeigen. Schaut man vom Garten zum Haus, so ist von dem fast 15 Meter hohen Kamin freilich nur noch die Spitze zu sehen.
Wie man diesen Tuyé und das quasi darum gebaute Haus auch ganz anders nutzen kann, erlebe ich wenig später im „Arbre à Chapeaux". Am äußersten Ortsende liegt das 330 Jahre alte Gehöft, das Isabelle und ihr Mann Bazile zu einem „Chambre d’hôtes" umgebaut haben, zu einer kleinen Pension mit drei Zimmern. Die traditionelle Architektur haben sie teilweise mit hippem Design und zeitgenössischer Kunst kombiniert, was für eine ganz besondere Atmosphäre sorgt – spätestens am Abend, wenn ein langer Tisch im ehemaligen Kaminzimmer gedeckt wird und man regionale Küche mit Blick hinauf in den Kaminschacht genießt. Man wolle die Traditionen der Region wieder ein bisschen mehr ins Bewusstsein rufen, sagt Gastgeberin Isabelle und startet damit, indem sie erst einmal einen Aperitif von einem lokalen Destillateur serviert. Bei ihr kommen – wenn möglich – nur Produkte aus der unmittelbaren Umgebung auf den Tisch, vom Fleisch bis hin zum Käse – kein Wunder, denn die Region ist unter anderem für den Hartkäse Comté und den traditionell im Holzkästchen verkauften Mont-d’Or bekannt. Doch Isabelle liegen nicht nur die kulinarischen Traditionen am Herzen, sie möchte ebenso Kunsthandwerker und Kreative „aus ihrer Nachbarschaft" unterstützen. Der „Arbre à Chapeaux", der „Baum, an dem Hüte baumeln", ist somit auch Schaufenster für lokales Kunsthandwerk und Veranstaltungsort, beispielsweise für Konzerte.
Verschlungene Pfade über Berge
Am Tag darauf bin ich mit Sylvie Personeni vor dem Rathaus von Morteau verabredet, einem quirligen Städtchen, das als eines der früheren Zentren der Uhrmacherkunst gilt. Denn hugenottische Handwerker flohen nach dem Edikt von Fontainebleau unter anderem aus Paris Richtung Schweiz, vor allem nach Genf, wo sich die Bevölkerung Ende des 17. Jahrhunderts verdreifachte.
Auch fanden viele in der heutigen Grenzregion eine neue Heimat und etablierten hier eine florierende Industrie, bei der Zulieferer kleinster in Handarbeit produzierter Teilchen eine entscheidende Rolle spielten. Kleine Teile für die Uhrenproduktion oder fertige Stücke mussten über die Grenze gebracht werden, möglichst an den Kontrollen vorbei. Verschlungene Pfade führten über Bergketten und durch dichte Wälder, die reichlich Möglichkeiten boten, sich vor Zöllnern zu verstecken. Geschmuggelt wurden zwischen Frankreich und der Schweiz nicht nur Uhrenteile, sondern auch alles für den Alltag Nötige. Und während der NS-Zeit konnten hier verfolgte Juden aus dem von Deutschland besetzten Teil Frankreichs in die Schweiz gebracht werden.
Einen Teil dieser „Chemins de la contrebande", der alten Schmuggelpfade, will mir Sylvie Personeni zeigen. Das Fremdenverkehrsamt von Morteau hat sich mit den Tourismusverantwortlichen des sogenannten Pays d’Horlogers, der Uhrmacherregion, zusammengetan, um mehrere Wanderrouten auf historischen Spuren zu entwickeln. Im Sommer wie im Winter kann man sich nun auf den „Weg des Hausierers" oder den „Uhrmacherweg" begeben – davon einzelne Etappen laufen oder die ganze Strecke, dann sind es 40 oder 60 Kilometer. Die Routen führen zwischen Frankreich und der Schweiz hin und her, steigen bis auf Mittelgebirgsniveau an und sind so konzipiert, dass genügend interessante Pausenstopps eingelegt werden können. Zudem haben sich die Initiatoren allerhand einfallen lassen, um die Geschichte der Region entlang der Strecke lebendig werden zu lassen.
Das wird schon klar, als Sylvie und ich einen Hügel mehrere Kilometer hinter Morteau hinauflaufen – gegen den Horizont hebt sich der Umriss einer Männergestalt ab. Wer mag das sein, hier oben in der Einöde neben der verlassenen alten Zollstation? Als wir uns der vermeintlichen Gestalt dann nähern, müssen wir schmunzeln – sie entpuppt sich als Metallfigur, eine Erinnerung an die Zeiten, als hier oben tatsächlich noch Zöllner patrouillierten. Ein Stückchen weiter finden wir in einer hölzernen Box eine Rätselfrage, davon seien so einige entlang der Route verteilt, sagt Sylvie. Für Familien gibt es zudem ein Begleitheft zum Wanderweg, in dem an verschiedenen Stationen Stempel gesammelt werden können.
Es wird langsam dunkel, wir kehren nach Morteau zurück, wo noch ein Highlight wartet. Im Château Pertusier, einem Renaissance-Palais am Ortsausgang ist das Uhrenmuseum untergebracht, in dem die Geschichte des Metiers in der Region mit Hunderten Exponaten erzählt wird. Vom Werkzeug, das die bäuerlichen Uhrmacher benutzten, über filigran wirkende Zifferblätter bis zu den Uhren: Über zwei Etagen verteilen sich alltagstaugliche und außergewöhnliche Exemplare – darunter eine astronomische Uhr von 1855. Daneben wuchtige Standuhren, mal mehr mal weniger prächtig verzierte Taschenuhren, Sonnenuhren und Armbanduhren. Jede für sich ein kleines Kunstwerk.