Das hat es noch nie gegeben: ein Weltstar, der seine Fans zu Hause besucht. Kiss-Mastermind Gene Simmons liefert sein neuestes Werk „The Vault" persönlich aus und feiert mit seinen Anhängern eine Party. Der 68-jährige US-Amerikaner mit der Maxi-Zunge im Interview.
Herr Simmons, Ihr Boxset „The Vault" enthält 150 unveröffentlichte Songs der Jahre 1966 bis 2016 verteilt auf zehn CDs. Was war es für ein Gefühl, auf Ihre einzigartige Karriere zurückzublicken?
Ich war nicht einen einzigen Tag meines Lebens betrunken. Als ich mir die alten Songs anhörte, konnte ich mich noch genau daran erinnern, wo und mit wem ich sie gemacht habe. Es fühlte sich an wie der Soundtrack meines Lebens. Die meisten Leute, die sich mit Kiss auskennen, wissen nicht, dass ich auch Songs auf dem Klavier schreibe und fast alle Instrumente beherrsche. Bei Kiss bin ich ja nur für den Bass zuständig.
Kiss gehört zu den erfolgreichsten Bands der Welt. Wie gehen Sie das Songschreiben an?
Ich bin mit den Beatles aufgewachsen, deren Bassist Paul McCartney machte 1970 ein Soloalbum, auf dem er sämtliche Instrumente selbst spielte. Das wollte ich auch. Wenn ich Songs schreibe, tue ich das nicht explizit für Kiss. Ich schreibe einfach drauflos. Während Paul sechs oder sieben Songs für eine Soloplatte zu Papier bringt, sind es bei mir 20 oder 30. Einige davon landen auf Kiss-Platten, die meisten aber hebe ich auf. So halte ich es seit 50 Jahren. Ich veröffentliche jetzt das größte Box-Set aller Zeiten. Alles in allem elf Stunden Musik auf insgesamt zehn CDs verpackt in einem Tresor.
Sie kamen 1955 als sechsjähriges Kind von Israel nach Amerika. Mit welcher Musik sind Sie aufgewachsen?
Die erste Musik, die ich hörte, stammte von Schwarzen wie Chuck Berry, Little Richard, Fats Domino. Ich liebte diese Klänge, aber erst als ich die Beatles in der Ed Sullivan Show sah, wollte ich in einer Band spielen. In dem Moment verstand ich, dass man in Amerika auch dann erfolgreich sein kann, wenn man einen komischen Akzent hat und anders als die anderen aussieht. Meinen ersten Song schrieb ich 1966 als Teenager: „My Uncle Is A Raft". Ich habe ihn bei einem Freund im Keller aufgenommen. Er klingt auch heute noch passabel. Das kann man auf der Box nachhören.
1991 kam es zu einer historischen Begegnung zwischen Ihnen und Bob Dylan, bei der Songs wie „Waiting For The Morning Light" entstanden. Wie kam es zu dieser ungewöhnlichen Session?
Ich glaube, nichts ist ungewöhnlich. Okay, es ist ungewöhnlich, dass jemand aus Israel nach Amerika kommt und dort Mitglied einer Band wird, die die meisten Goldenen Schallplatten in der Geschichte der US-Musik eingefahren hat. Kiss hat mehr Goldene als jede andere Band in jeder erdenklichen Kategorie. Ich verspürte einfach den Wunsch, einmal mit Bob Dylan Songs zu schreiben. Also griff ich zum Hörer und rief seinen Manager an. Ich erwartete, dass er entweder Ja oder Nein sagt. Ehrlich gesagt hatte ich eher mit einem Nein gerechnet. Der Manager sagte zuerst, das würde nicht gehen, aber dann hatte ich plötzlich Bob persönlich an der Strippe: „Ah, wer ist da? Gene? Yeah, hey Gene!".
Und wie ging es weiter?
Ein oder zwei Tage später schaute Bob mit seiner akustischen Gitarre tatsächlich bei mir vorbei. Wir fingen sofort an zu schreiben. Wir haben das alles auf CD gepresst. Das Erstaunliche an dieser Session war, dass Bob und ich unsere Egos beiseiteschoben. Es ging hier nicht darum, den Ring von His Bobness zu küssen. Dylan begegnete mir als ganz normaler Typ.
Waren Sie nervös?
Natürlich war ich nervös. Aber es lief wie geschmiert. Wir haben drei Songs zusammen gemacht, und er hat sie ohne Einwände freigegeben. Bob schrieb die Akkorde und ich die Melodien. Ein Lied heißt „Na Na Na Na Na", weil wir dafür keinen Text geschrieben haben. Wir benutzten eine Kunstsprache wie Phil Collins bei seinem „Sussudio"-Song oder Gene Vincent bei „Be-Bop-A-Lula". Ich habe Bob im Laufe der Jahre immer wieder gebeten, für unseren Song einen Text zu schreiben. Er antwortete: „Mr. Kiss, schreiben Sie den Text!" Ich erwiderte: „Aber Du bist doch der Dichter!" Ich schaffte es nicht, ihn zu überreden. Also beließ ich den Song so, wie er war.
Hat Dylan wenigstens für die anderen gemeinsamen Songs Texte geschrieben?
Auch das wollte er nicht, also tat ich es. Dieses Treffen war insofern ungewöhnlich, als es ohne Absichten stattgefunden hat. Wir sind einfach nur zusammengekommen, um Musik zu machen. Die Travelling Willburys – Roy Orbison, Tom Petty, George Harrison und Dylan – hatten auch keinen Masterplan. Sie trafen sich einfach in lockerer Atmosphäre und schrieben Songs.
Hatten Sie für Ihre eigene, einzigartige Karriere einen Masterplan?
Nein. Von außen sieht es vielleicht so aus, aber es gab keinen. Meine Karriere ist einfach passiert. Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit der richtigen Sache. Hätten wir Kiss im 18. Jahrhundert gegründet, wäre nichts passiert.
Welche Rolle spielt Talent bei einer Karriere im Musikgeschäft?
Nun, man sollte schon Songs schreiben können. Aber es gibt mehr talentierte Leute als man denkt, die nicht den nötigen Antrieb haben, um berühmt zu werden. Sie spielen in Jazzkellern und beherrschen sämtliche Stile. Aber um berühmt zu werden, braucht man einen sehr individuellen Stil à la Angus Young und AC/DC oder Keith Richards und die Stones. Du kannst noch so tolle Songs schreiben, aber ohne eine eigene Identität hat deine Musik keine Seele. Dann ist sie leer. Keith Richards beherrscht seinen Stil perfekt, er könnte aber in keiner Jazzband spielen. Pete Townshend ist und bleibt Pete Townshend.
Haben Sie einen eigenen Stil entwickelt?
Nein, habe ich nicht. Wenn ich Songs schreibe, versuche ich immer, einem bestimmten Stil treu zu bleiben, aber es klappt oft nicht. Ich kann mich nicht hinsetzen und etwas für ein bestimmtes Projekt schreiben. Keine Ahnung, wie das geht. Meine Melodien entwickeln immer ganz schnell ein Eigenleben.
Was ist sonst noch auf der Box?
Insgesamt 150 Songs, darunter „Mongoloid Man" von 1978 mit Joe Perry von Aerosmith an der Sologitarre. Den politisch etwas unkorrekten Text habe ich später für eine Kiss-Nummer namens „Spit" verwendet. Die Van-Halen-Brüder sind auf drei Stücken zu hören. Und natürlich sind sämtliche Kiss-Mitglieder vertreten. Es gibt zudem ein dickes Buch, eine Gene-Simmons-Action-Figur und wenn Sie da unten draufdrücken, finden Sie ein Unikat aus meiner persönlichen Memorabilia-Sammlung (Anm. d. Red.: Ein auf Holz gemaltes Simmons-Porträt ploppt heraus).
2018 haben Sie vor, Ihren Fans höchstpersönlich einen Hausbesuch abzustatten, um ihnen „The Vault" auf den Wohnzimmertisch
zu legen. Was kostet das?
Für 50.000 Dollar bringe ich ihnen „The Vault" persönlich vorbei und verbringe den Tag mit ihnen. Sie können 25 Freunde einladen. Ich bringe meine Gitarre mit oder was immer sie möchten. Die einzige Möglichkeit, an dieses streng limitierte Objekt heranzukommen, ist die Website www.genesimmonsvault.com. Im Lauf des Jahres 2018 werde ich „The Vault" weltweit ausliefern. Die Kosten für Flug, Hotel und Versicherung trage ich selbst. Es wird in der Zeit keine Kiss-Tour geben, nur vereinzelte Shows im Mai und Juni.
Kiss sind bekannt für ihre Extravaganz. Welche Intention steckt hinter Ihrer Aktion?
Als ich jung war, gab es keine Rockstars, die bei ihren Fans an die Türe klopften, um ihnen ihr neuestes Album vorbeizubringen. Elvis Presley hat mich nicht besucht, um mir seine Songs vorzuspielen. Ich will das ändern. Ich schaue bei meinen Fans persönlich vorbei.
Für diesen Service müssen die Fans wahlweise 2.000, 25.000 oder 50.000 Dollar springen lassen. Wie groß ist die Nachfrage nach den verschiedenen Editionen von „The Vault"?
Wir werden bald ausverkauft sein. Es gibt nur noch ein paar tausend Exemplare. Wer zuerst kommt, malt zuerst. Es wird keine Zweitauflage geben.
Wer oder was ist wertvoller – Sie oder Ihre Musik?
Ich bin wertvoller, weil ich derjenige bin, der diese Musik erschafft. Dafür arbeite ich hart. Sobald du einen Song veröffentlichst, entwickelt dieser ein Eigenleben.
Gibt es etwas, das Sie für Geld nicht tun würden?
Ich würde niemals Crack verkaufen. Keine Drogen! Aber: Der Sportwagenhersteller McLaren hat mich angeheuert. Ich besitze eine Restaurantkette,
eine Filmproduktionsfirma, einen Buch- und einen Comicverlag. Ich liebe es, mehrgleisig zu fahren. Total spannend!
Gibt es einen ethischen Weg, reich zu werden?
Alles, was ich tue, ist ethisch korrekt. Ich tue nichts Illegales. Stehlen ist illegal. Wer schlau ist, macht sein Geld an der Wall Street.
Ist Geld der Schlüssel zu allem?
Ja. Es tut mir leid, das sagen zu müssen. Wollen Sie wissen, warum?
Erklären Sie es mir bitte.
In meiner Jugend hieß es, Liebe sei die mächtigste Sache der Welt. Das klingt schön. Stellen Sie sich vor, Sie lebten in der Wüste und hätten ein Kind, dem Sie all Ihre Liebe geben. Ihr Kind würde trotz Ihrer Liebe sterben, weil Sie kein Geld für Nahrung hätten. Ohne Geld ist Liebe nicht wirklich möglich. So ist das Leben.
Sie selbst wurden als Chaim Witz in ärmlichen Verhältnissen im israelischen Haifa geboren. Ihre Mutter Flora Klein überlebte als ungarische Jüdin mehrere Konzentrationslager der Nazis. Wie hat sie das geschafft?
Durch Müll. Sie musste im Büro des Kommandanten arbeiten, den Nazis die Haare schön machen und ihren Müll einsammeln. Sie hat mir nie erzählt, in welchen Lagern sie genau war. Meine Mutter ist heute 92 und bedeutet mir alles. Sie ist mein Herz und meine Seele. Sie hat mir etwas Wichtiges beigebracht: Wenn du in einem freien Land wie Deutschland, Frankreich oder Amerika lebst, darfst du so sein, wie du willst. Niemand kann dich davon abhalten. Und trotzdem jammern wir immer auf hohem Niveau: Der Fahrstuhl ist zu langsam! Zu viel Verkehr! Das Essen ist kalt! Wir beschweren uns wegen nichts. Als meine Mutter 14 war, hatte sie wirklich einen Grund, sich zu beklagen. Alles andere bedeutet nichts.
Wie lautet Ihr Arbeitsethos?
Kein Urlaub! Ich arbeite jeden Tag. Was würden Sie tun, wenn Sie nur noch 24 Stunden zu leben hätten?
Schwer zu sagen. Vielleicht kaufte ich mir dann ja einen Kiss-Sarg.
Für mich ist diese Frage leicht zu beantworten, weil ich jeden Tag so behandle, als sei es mein letzter. Vielleicht werde ich ja morgen beim Überqueren der Straße überfahren. Mit dieser Einstellung genieße ich das Leben viel mehr. Das Essen schmeckt mir besser. Ich arbeite härter. Ich liebe meinen Partner noch mehr. Ich schlafe gut.
Ich schlafe schlecht. Was raten Sie mir?
Weniger fernsehen und noch härter arbeiten! Dann fallen Sie wie ein Stein ins Bett. Habe ich recht oder nicht?
Hat sich eigentlich schon jemand in einem Kiss-Sarg beerdigen lassen?
Dimebag Darrel von Pantera neben unseren Soldaten, die in Afghanistan und im Irak getötet wurden. Ein Sergeant hatte das sogar in seinem Testament verfügt.
Wie lautet Ihr letzter Wille?
Ich möchte, dass es meiner Familie gut geht. Ich schaffe Arbeitsplätze und unterstütze Wohlfahrtseinrichtungen. Ich staune jeden Tag über mein Leben.