Schaulustige Menschen stellen Bilder und Videos von Unfallstellen und Verletzten ins Netz, statt zu helfen. Nicht selten behindern sie auch die Rettungskräfte. Woher kommt das? Und steckt der Gaffer in uns allen?
Drei junge Leute kommen an einer Unfallstelle vorbei. Sie posieren dort, machen Fotos, stellen gar Selfies mit dem Opfer ins Netz. Feuerwehrleute versuchen sie zu hindern, ernten aber nur eine genervte Reaktion. Dass sie den Weg für Sanitäter blockieren, scheint sie nicht zu interessieren. „Schaulustige – Sei kein Gaffer“ heißt das viereinhalb Minuten lange Video der Filmstudenten Elena Walter und Emanuel Zander-Fusillo. Seit Weihnachten ist der Clip auf Youtube zu sehen, millionenfach wurde er geklickt, unzählige Male geteilt und kommentiert. Viele User loben den Film und sein Thema, das immer mehr an Bedeutung gewinnt.
Von der Resonanz waren die Filmemacher selbst überrascht. Obwohl sie die Handlung in ihrem Drehbuch auf die Spitze getrieben hätten, erhielten sie Feedback von Feuerwehrleuten, die ähnliche oder schlimmere Situationen erlebt hätten. Nicht nur von Behinderung der Arbeit ist da die Rede, auch von gestohlenem Material und von geklautem Proviant. Feuerwehrleute, Rettungskräfte, Polizei und Medien diskutieren nicht erst seit gestern über das Problem mit Gaffern. Woher kommt das?
Im Duden heißt es, ein Gaffer sei jemand, der verwundert, neugierig, selbstvergessen, häufiger aber sensationslüstern (mit offenem Mund und dümmlichem Gesichtsausdruck) jemanden oder etwas anstarrt oder einen Vorgang verfolgt. Der Verkehrspsychologe Heiko Ackermann erklärt, Gaffen beginne dort, wo die Rechte der Betroffenen gestört würden. Etwa, wenn jemand ein schlimmes Ereignis sieht, stehen bleibt, sich selbst vergisst und Dinge tut, die er nüchtern nicht täte. Untätig rumstehen zum Beispiel oder Bilder von leidenden Menschen machen.
Größere Distanz durch das Handy
Zwischen 16 und 26 Zuschauern sind laut einer Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen im Schnitt bei einem Verkehrsunfall anwesend. Das Problem: Ihre Untersuchung ist 29 Jahre alt, aktuelles Zahlenmaterial gibt es nicht. Schwer also nachzuvollziehen, ob die Gaffer tatsächlich objektiv zunehmen oder ob die Menschen früher schon genauso renitent gestiert haben. Das Smartphone aber trage laut Experten einen Teil zum Problem bei. Durch das Handy würden die Gaffer eine größere Distanz zum Opfer empfinden. Ein Phänomen, das auch von Kriegsreportern bekannt ist, die ihre Kamera als Schutzschild empfinden. Dazu kommt, dass der Schaulustige mithilfe seines Smartphones Reporter spielen kann. Nicht selten kommt solchen Unfallvideos viel Aufmerksamkeit zu, manch einer wird dadurch sogar berühmt. Ein Effekt, der auch auf die Verschiebung in der Medienlandschaft zurückzuführen ist. Die Grenzen zwischen Zuschauer, Hörer, Leser und Reporter verschwimmen zunehmend.
Katastrophen, Unglücke und schreckliche Ereignisse scheinen die Menschen seit jeher anzuziehen. Als die Fähre „Herald of Free Enterprise“ vor dem Hafen von Zeebrugge kenterte und 193 Menschen starben, strömten angeblich 150.000 Katastrophentouristen zum Unglücksort. Und nach dem tödlichen Unfall von Diana war der Tunnel unter der Place de l’Alma in Paris monatelang das Ausflugsziel von Schaulustigen. Erst voriges Jahr hat das Verhalten mehrerer Schaulustiger in Baden-Baden für Empörung gesorgt. Polizeibeamte waren zu einem Hotel gerufen worden, weil ein Gast damit drohte, sich vom Gebäude zu stürzen. Der offenbar suizidgefährdete Mann wurde von den zahlreichen Schaulustigen gefilmt. Außerdem sollen ihn die Gaffer durch Rufe zum Sprung in die Tiefe ermutigt haben. Die Polizei sprach von „beschämenden Szenen“. Das Verhalten der Passanten habe „selbst erfahrene Polizeibeamte erschaudern lassen“.
Warum gafft der Mensch, und steckt am Ende ein bisschen Gaffer in jedem von uns? „Ursprünglich bedeuten Situationen, in denen Menschenaufläufe sind, wo sichtbar etwas passiert, Warnung. Da muss man sich informieren, was passiert. Das ist eine urzeitliche Disposition, die wir alle haben, auch alle Tiere“, erklärt Dr. Daniela Klimke vom Institut für Sicherheits- und Präventionsforschung. Wenn man allerdings dort stehen bleibe, also tatsächlich zum Gaffer wird, würde man sich an dem Ereignis ergötzen und einem Spannungsschema folgen. „Da ist etwas passiert, das ich mir aus sicherer Distanz anschauen kann. Dann will derjenige wissen, was geschieht als nächstes, ist da jemand verletzt und so weiter. Im Grunde folgt man demselben Schema wie bei einem Krimi auch.“
Für Manche ist es eine Sucht
Was treibt solche Gaffer an? „Das ist komplex, sicher spielen da die neuen Medien und die Beachtung, die man durch sie bekommen kann, eine ganz große Rolle. Wer die besten Bilder und Videos hat, bekommt die meisten Klicks.“ Im Bildmaterial und der Möglichkeit, dadurch Aufmerksamkeit zu bekommen, sieht Klimke den größten Antrieb für Gaffer. Aber sie beobachtet noch eine weitere Komponente: „Dazu kommt eine Art Autoritätsverlust, den die Rettungskräfte hinnehmen müssen. Das Problem haben Ärzte, Lehrer oder Professoren genauso. Sie gelten nicht mehr per se als weisungsbefugte Autorität. Früher haben Sie das, was der Arzt oder Professor gesagt hat, noch als gegeben hingenommen. Heute sehen sich die verschiedensten Berufsgruppen mit Gegenfragen und Wikipedia-Wissen konfrontiert. Unsere Zeit funktioniert postautoritär.“ Als Werteverlust empfindet Klimke diesen Wandel jedoch nicht. „Es sind ja andere Werte hinzugekommen. Kommunikation beispielsweise, die auf Augenhöhe funktioniert. Das ist auch ein Wert.“ Verkehrspsychologe Heiko Ackermann attestiert unnachgiebigen Gaffern zudem mangelnde Empathie. Ihr Tun folge nur einem einzigen Zweck: Die Aufnahmen sollten sie selbst aufwerten und ein defizitäres Selbstbewusstsein befriedigen. Für manche Menschen sei das quasi eine Sucht, sie suchten gezielt Unfälle auf.
Generell beklagen Experten immer wieder einen Rückgang der Empathie innerhalb der Gesellschaft. „Über die vergangenen 30, 40 Jahre werden uns in Bezug auf Empathie schlechte Noten gegeben“, schildert etwa Empathieforscher Fritz Breithaupt die Lage. Eine Tatsache, die auch mit Smartphones und Co. in Verbindung gebracht wird. Die Soziologin Sherry Turkle berichtet beispielsweise in ihrem Buch „Reclaiming Conversation. The Power of Talk in a Digital Age“ von einer Studie, die Studenten innerhalb der vergangenen 30 Jahre einen Rückgang der Empathie um fast 40 Prozent bescheinigt. Die größte Abnahme erfolgte mit Beginn der digitalen Kommunikationstechnik.
Daniela Klimke glaubt aus ihrer Erfahrung heraus, dass das Phänomen des Gaffens zugenommen hat: „Wenn man kein Zahlenmaterial hat, muss man auf Plausibilitäten zurückgreifen. Mir scheint, dass dieses Problem durch die sozialen Medien zugenommen hat. Wir sehen dort immer mehr solche Bilder und Videos. Das deckt sich auch mit dem, was mir Kollegen, Polizisten, Rettungskräfte oder Feuerwehrmänner berichten. Aber das ist alles kein Beleg.“
Wer dreht solche Videos, wer macht Fotos von Verletzten an Unfallorten? Gibt es vielleicht eine Typologie des Gaffers? „Das sind offenbar eher junge Leute, ich würde vermuten eher junge männliche Leute, die dort auffallen. Oft behindern sie mit einer gewissen Dreistigkeit die Rettungskräfte, beschimpfen sie, oder es kommt zu tätlichen Angriffen“, sagt Klimke. Sie wisse auch, dass es in anderen Kulturkreisen, wie etwa im asiatischen Raum, solche Rettungsmechanismen gar nicht gibt. Als kulturbezogenes Phänomen könne man das Gaffen dennoch nicht betrachten.
Wie also kann man dem Ganzen entgegenwirken, was tun gegen Gaffer? Der ADAC fordert höhere Strafen und hofft, dass dadurch Gaffer abgeschreckt werden können. Das Fotografieren oder Filmen eines Unfalls ist eine Straftat, die mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder einer Geldstrafe geahndet werden kann. Für das Gaffen selbst können Geldstrafen von 20 bis 1.000 Euro verhängt werden. Wer sich Einsatzkräften in einer Rettungsgasse in den Weg stellt, muss ein Bußgeld von 20 Euro zahlen.
ADAC fordert höhere Strafen
Aber auch bei Polizei und Feuerwehr lässt man sich etwas einfallen, um dem Gaffen entgegenzuwirken. Die Feuerwehren der Stadt Wunstorf etwa haben eine Plane entworfen mit dem Slogan: „Nicht Gaffen! Mitglied werden!“. Sie wollen dadurch nicht nur die Bevölkerung wachrütteln, sondern versuchen gleichzeitig, Mitglieder zu werben. Die Polizei in Dortmund hat die Gaffer mit ihren eigenen Waffen geschlagen. Die Beamten erwischten 25 Gaffer, die, zum Teil bei laufender Fahrt, Fotos von der Unfallstelle machten. Daraufhin knipsten die Polizisten die Gaffer – eine Aktion, für die sie im Netz gefeiert wurden.
Auch Daniela Klimke gibt sich optimistisch, was die Bekämpfung des Gaffens angeht: „Es wird ja dagegen gearbeitet. Auch in den Medien wird berichtet, in manchen Beiträgen wird gezielt darauf hingewiesen, Rettungsgassen zu bilden, es gibt neuerdings Aufkleber. Ich denke, es tritt wieder stärker ins Bewusstsein. Prävention besteht aus Aufklärung. Wahrscheinlich muss man einfach noch mal deutlich machen, wie wichtig richtiges Verhalten an Unfallorten ist, und dann wird dieses Phänomen bestimmt auch wieder abnehmen.“