Heike Tamminga-Boyke ist Pastorin an dem Berufsschulzentrum in Eckernförde. Im Interview spricht die 56-Jährige über die Rolle der Kirchen im Wertewandel.
Frau Tamminga-Boyke, Kirche und Werte in unserer Gesellschaft – wie hängt das miteinander zusammen?
Werte spielen in der Religion natürlich eine besondere Rolle. Religiöse Bildung zum Beispiel ist auch Wertevermittlung; wir sprechen dann von Ethik – weil der religiöse Mensch ja auch immer handelt. Werte kann man aber nicht weitergeben wie binomische Formeln. Sie sind immer mit der Selbst- und Weltdeutung des einzelnen Menschen eng verbunden. Was sich über Religion weitergeben lässt, ist die Art und Weise des Fragens nach dem Guten – und das ist auch für unsere Gesellschaft sehr wichtig.
Schafft die Kirche heutzutage auch neue Werte oder bewahrt sie vor allem vorhandene?
Ich denke die Kirche versucht, ganz alte Schätze zu heben. Wenn ihr das gelingt, wird es spannend. Denn der Kern der christlichen Ethik ist die Liebe – und das ist eine die Welt verändernde Kraft. Dieses Grundmotiv ist stark und wird immer wieder neu variiert und modern durchgespielt, auch außerhalb der Religion. Tolkien mit seiner „Herr der Ringe“-Trilogie ist so ein Beispiel: Gut gegen Böse, Liebe gegen Hass.
Werden wir etwas konkreter. Beobachten Sie als Berufsschullehrerin auch einen Werteverlust?
Was ich erlebe an der Schule, aber auch allgemein in der Gesellschaft, ist eine komplette Durch-Ökonomisierung aller Lebensprozesse. Das wirkt sich nach meiner Beobachtung auf die Menschen aus und beschädigt sie in ihrem Menschsein. Ja, da passiert dann auch etwas mit ihren Werten.
Was können die Kirchen dagegen tun?
Christliche Werte können auch heute gute Wege ebnen. Nächstenliebe, Gottes- und Feindesliebe, aber vor allem Selbstliebe sind Wege, die den Menschen aus seelischen Verkrampfungen befreien können. Die entstehen durch Perfektionszwang und Fremdbestimmung in der heutigen Gesellschaft. Die Kirchen können außerdem zum Erleben von Gemeinschaft beitragen, was angesichts von Anonymität und Beziehungslosigkeit in unseren Zeiten wichtig ist.
Die Menschen kehren der Institution Kirche zunehmend den Rücken. Was bedeutet das für eine gezielte Wertevermittlung?
Den Relevanzverlust, den die Kirchen heute erleben, teilen sie mit vielen anderen Institutionen, Vereinen oder NGOs. (Non-Governmental Organizations, nicht staatliche Organisationen, die verschiedene Aufgaben übernehmen, zum Beispiel Umweltschutz, soziale Dienste, Anm. d. Red.). Als Schulpastorin an einem Berufsbildungszentrum arbeite ich hauptsächlich an der Peripherie der Kirche. Dort merke ich, dass die Wertevermittlung am besten funktioniert durch das „Lernen am Modell“. Es bedeutet, Dinge vorzuleben. Wenn die Schüler merken, da ist eine, die ist entzündet für ihre Sache und kommt jeden Morgen gut gelaunt in die Schule, dann interessiert sie das. Es kann dann die Frage aufkommen, was ein Leben gelingen lässt, trotz aller gesellschaftlichen Zwänge.
Sie sprechen da von sich ganz persönlich. Was kann die Institution Kirche tun?
Ich glaube, sie sollte sich wieder mehr auf ihr Kerngeschäft besinnen. Die alten Schätze heben, von denen ich schon sprach. Und bei den Menschen sein. Sie darf aus meiner Sicht auch wieder etwas kritischer werden und sich aus dem „Ethischen Wachkoma“ erheben, um nicht nur sich selbst, sondern auch die anderen wachzurütteln.
Hat das Schrumpfen der Kirchen auch mit einem Wertverlust in der Gesellschaft zu tun?
Das ist eine schwierige Frage: Was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Ich denke, es ist ein ganz vielschichtiger Prozess der Traditionsabbrüche allgemein. Da spielen natürlich auch Entwicklungen, wie Globalisierung und Digitalisierung große Rollen. Trotzdem glaube ich, dass die Kirche sich stärker gegen die anhaltende Durch-Ökonomisierung aller Lebensbereiche stemmen sollte. Sie sollte auch lauter und prophetischer die Stimme erheben, wenn es um Zustände geht, in denen Menschen leiden. Sie muss den Stummen eine Stimme geben.
Kirche und Religion in der Gesellschaft. Wenn Sie einen Blick in die Zukunft wagen – was sehen Sie?
Menschen haben auch in unserer pluralistischen Gesellschaft ganz spezifische religiöse Bedürfnisse und Sehnsüchte. Die Urfragen des Daseins – warum lebe ich, was bin ich wert, woher komme ich, wohin entwickelt sich alles – spielen immer eine Rolle und suchen immer nach Antwort. Religion verliert also im Kern nicht an Bedeutung. In unserer Gesellschaft sind viele Dinge allerdings nebeneinander möglich und dann auch gleich gültig, was sie häufig im wahrsten Sinne des Wortes gleichgültig werden lässt. In diesem Vakuum der Gleichgültigkeit gibt es einen Markt. Hier versuchen viele Leute, die existenziellen Bedürfnisse der Menschen anzusprechen, sei es durch Okkultismus, Pendeln, Esoterik, Astrologie oder solche Dinge. Im schlimmsten Fall geht das bis hin zum sogenannten IS. Den Menschen fehlt heutzutage oft die Wegbegleitung, um herauszufinden, was ist heilsam für mich, und was schadet mir und natürlich auch den anderen.
Werden die Menschen dabei von der Kirche alleingelassen?
Anscheinend nehmen viele Menschen den Wertekompass des Christentums und den Halt, den die Kirchen als Gemeinschaft geben können, nicht mehr wahr oder nutzen für sich selbst diese Chancen wenig. Aber es gibt auch noch andere Aspekte: Vielen Menschen fehlt heutzutage ein ideologiekritisches Nachdenken. Viele probieren vieles aus und hoffen dann, da heil wieder rauszukommen.
Wie können die Kirchen die Menschen wieder besser erreichen?
Wir müssen hingehen zu den Menschen, nicht irgendwo im Kirchturm warten, dass die Leute kommen. Wir müssen uns „auf die Socken machen“, wie Jesus zu seiner Zeit: zu den Menschen an ihre Arbeitsplätze gehen, sie dort begleiten, wo sie die meiste Zeit verbringen, wie Jesus damals, als er zu den Fischern ging. Wichtig ist es, mit Menschen das Leben zu teilen. Ich habe bereits das „Lernen am Modell“ erwähnt. Wenn ein Transfer gelingen soll von Werten und ein Entdecken von Lebenssinn, dann geschieht das häufig über den Kontakt mit Menschen, die bereits etwas verwirklicht haben, was man selbst noch nicht verwirklicht hat, aber gerne verwirklichen möchte.