Der Mensch wird nicht nur von seinen Genen gesteuert, er kann sie auch selbst beeinflussen, sagt die Epigenetik-Forschung. Das Versprechen ist groß, doch noch sind einige Fragen offen. Was ist dran an der Idee?
Aus rund 25.000 Genen besteht das Genom des Menschen. Sie alleine erklären aber noch nicht, warum jemand Demenz bekommt oder warum zwei Menschen das gleiche Krebs-Gen haben, die Krankheit aber nur bei einem ausbricht. Solche Fragen führen Forscher auf die Epigenetik zurück. Dr. Adelheid Lempradl vom Max Planck Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg erklärt es so: „Epigenetik ist das, was uns als Menschen unterscheidet, aber nicht in der DNA codiert ist. Eineiige Zwillinge, die die gleiche DNA haben, können sich zum Beispiel bei Krankheitsbildern unterscheiden. Einer bekommt etwa Diabetes, der andere nicht."
Zusammengesetzt aus den Wörtern Genetik und Epigenese meint der Begriff die Entwicklung eines Lebewesens. Etwas wissenschaftlicher ausgedrückt: die molekularen Mechanismen, die dazu führen, dass Gene stärker oder schwächer abgelesen werden, ohne dass dabei die dort gespeicherten Informationen verändert werden. Die Epigenetik ist eine Art Bindeglied zwischen Genen und Umwelteinflüssen. Sie legt fest, unter welchen Umständen welches Gen ausgeschaltet wird oder verstummt. Experten sprechen dabei von Genregulation.
Damit stößt die Epigenetik ein lang gehegtes Dogma der Biologie um. Die Idee, dass die Eigenschaften eines Organismus durch das Genmaterial, das bei der Geburt vererbt wird, unveränderbar bestimmt werden. Nachdem die ersten Forschungen dazu erschienen sind, klang das in manchen Medien als hätte der französische Naturforscher Jean-Baptiste de Lamarck über Charles Darwin gesiegt.
Gene und Umwelteinflüsse
Hatte Lamarck doch lange vor Darwin seine Annahmen zur Evolution der Arten formuliert. Unter anderem festgemacht hatte er das an Giraffen: Nachdem die Tiere ihre Hälse immer höher streckten, um an die Zweige in den Baumkronen zu gelangen, wurden die Hälse von Generation zu Generation länger. So zumindest seine Theorie. Dann kam Darwin. Er ging davon aus, dass Evolution durch zufällige Mutationen der Erbanlagen erfolgt. Erworbene Körpereigenschaften, glaubte er, werden nicht weitergegeben. Dem folgten auch die Genetiker und fühlten sich in ihrer Annahme bestätigt, als die DNA als Träger der Erbsubstanz identifiziert wurde. Die Epigenetik sagt nun nicht, dass Lamarck mit seinen Giraffenhälsen doch von Anfang an Recht hatte, wohl aber, dass die Wirkung der Gene nicht ausschließlich von der DNA abhängt, sondern auch von ihrer Verpackung.
Wie sieht so ein epigenetischer Code aus? Und vor allem: Wie können Gene ein- und ausgeschaltet werden? Die bekannteste Funktionsweise der Epigenetik ist die sogenannte Methylierung. Dabei docken kleine Moleküle, genauer Methylgruppen aus einem Kohlenstoffatom und drei Wasseratomen, an den DNS-Strang an und verhindern so, dass die nachfolgende Gensequenz abgelesen und in ein Protein übersetzt werden kann. Das Gen wird ausgeschaltet.
Ebenfalls von großer Bedeutung ist die Histon-Acetylierung. Der etwa zwei Meter lange DNS-Strang einer Zelle muss in den sehr kleinen Zellkern passen. Damit das funktioniert, muss er besonders dicht gepackt werden. Um bis zu Hunderttausende von Perlen, sogenannte Histonkomplexe, windet sich der Strang dabei. Um die Gene zu aktivieren, muss das Erbgut dann erst wieder „entpackt" werden. Kleine Moleküle, Acetylgruppen, helfen dabei. Sie lockern den Strang und machen die Gene lesbar. Solange die DNA dicht verpackt ist, ist sie nicht lesbar. Erst wenn sie dünn verpackt ist, ist sie zugänglich und die Gene können aktiviert werden. Wissenschaftler können dann beim menschlichen Genom die Stellen mit den Sondermolekülen markieren. Das Ergebnis: Man erhält neben dem genetischen Code das Epigenom als eine Art „zweiten Code". Insgesamt besitzt der Mensch eine Vielzahl dieser Epigenome – jeder Zelltyp enthält zwar die gleiche Gensequenz aber unterschiedliche Markierungen.
Was sich durch die Epigenetik tatsächlich alles erklären lässt, untersuchen Forscher anhand von zahlreichen Studien an Menschen, Tieren und Pflanzen. Dabei geht es nicht nur um körperliche Eigenschaften, sondern auch um die seelische Beschaffenheit. Können erlebte Traumata weitergeben werden? Ein Beispiel für das epigenetische Gedächtnis ist das der schwangeren Niederländerinnen aus dem Hungerwinter 1944/45. Die Frauen brachten untergewichtige Babys zur Welt. Der Nachwuchs hatte überdurchschnittlich oft mit Depressionen, Übergewicht oder Schizophrenie zu kämpfen. Auch Alterskrankheiten wie Diabetes oder Herzprobleme trafen die Kinder besonders früh. Die weiblichen Nachkommen gebaren selber wieder verhältnismäßig kleine Kinder, obwohl mittlerweile Nahrung in Hülle und Fülle vorhanden war. Die Erbsubstanz der Enkel, so der Schluss der Forscher, enthält also auch Informationen über die Lebensbedingungen der Großeltern.
Welche Auswirkungen hat nun diese Erkenntnis? Axel Mexer ist Evolutionsbiologe an der Universität in Konstanz und erklärt, dass nach neuen Erkenntnissen die DNA den Menschen weitaus stärker bestimme als die epigenetische Verpackung. Sein Eindruck sei, dass epigenetische Veränderungen nach zwei oder drei Generationen spätestens wieder verloren gingen.
Ein anderes Trauma haben Wissenschaftler vom Max-Planck Institut für Psychiatrie in München untersucht: den 11. September 2011. Sie haben die Gene von 20 Augenzeugen der Anschläge, die bis heute unter schweren seelischen Folgen leiden, mit denen von 20 Augenzeugen ohne psychische Belastungen verglichen. Das Ergebnis: Bei den Betroffenen war eine große Zahl von Stress-Genen überaktiv. Bei den anderen Probanden konnte keine höhere Aktivität festgestellt werden. Das Erlebnis hatte die Verpackung der Gene in den Zellen der traumatisierten Augenzeugen verändert. Die Gene sind unverändert geblieben, die Genaktivität aber, die Epigenetik, war nicht mehr dieselbe.
Für viele Fragen der Epigenetik greifen Wissenschaftler immer wieder auf Tierversuche zurück. Forscher des Salk-Instituts in Kalifornien haben die Epigenetik von Versuchstieren gezielt verändert: Sie entfernten bestimmte Methylgruppen auf der DNA der Tiere. Aus reifen Körperzellen wurden so unreife Stammzellen. Diese Veränderung wirkte wie ein Jugendelixier und verlängerte die Lebenszeit der Tiere um 50 Prozent.
Einflüsse auch generationenübergreifend
Dr. Adelheid Lempradl vom Max Planck Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg forscht gerade an Drosophila-Fliegen: „Ich befasse mich mit der nicht genetischen, also epigenetischen Vererbung, in meinem Fall vom Vater auf den Nachkommen. Dazu gebe ich männlichen Drosophila-Fliegen Futter mit unterschiedlicher Zuckerkonzentration. Die Nachkommen von Vätern, die besonders wenig oder besonders viel Zucker in der Nahrung hatten, waren anfälliger, in der nächsten Generation Fettleibigkeit zu entwickeln. Unsere Labor-Fliegen sind sich in ihrer DNA sehr ähnlich, daher lassen sich solche Studien mit ihnen gut durchführen".
Aber auch sensible Phasen und deren generationsübergreifende Bedeutung, wie etwa die Schwangerschaft, werden an Tieren getestet. Axel Meyer und Amber Makowicz haben beispielsweise Fische unter Stress gesetzt. Sie haben dem Wasser Geruchsstoffe hinzugefügt, die den Fischen suggerierten, es sei ein Raubfisch in der Nähe. Die Umwelt der Weibchen verändere die epigenetischen Markierungen der nächsten Generation, so das Ergebnis der Studie.
Wie aber gelangen die Informationen vom Körper in die Keimbahn? Diese Frage ist bislang ungelöst. Erste Hinweise vermuten Forscher in Untersuchungen an Pflanzen: Durch sie schwimmen RNA-Moleküle in feinen Wasserkanälen. Sie gelangen so zu Blatt, Wurzel und Samen. „Es gibt einige Publikationen, die behaupten, diesen Vektor gefunden haben. Manche glauben, das sind kleine RNAs. Manche glauben, es sei die DNA-Methylierung. Es könnte natürlich auch eine Kombination sein. Momentan gibt es aber noch einige Unsicherheiten", erklärt Dr. Adelheid Lempradl.
Die Epigenetik ist ein Feld, das neben vielen spannenden Erkenntnissen auch noch zahlreiche neue Fragen aufwirft. „Speziell bei der generationenübergreifenden Genetik macht man zwar Fortschritte, aber es gibt noch sehr vieles, das wir nicht wissen. In der Krebsforschung weiß man mittlerweile, dass sich Gene bei vielen Krebsarten epigenetisch verändern und so Tumore entstehen. Da gibt es jetzt schon epigenetische Medikamente, die teilweise bereits in der Klinik sind. Aber auch in diesem Forschungsfeld ist noch einiges offen", berichtet Lempradl.
Eine besondere Herausforderung für die Zukunft sei es, Gene ganz gezielt zu treffen und anzusprechen. „Spezifisch ein Gen über einen epigenetischen Mechanismus anzusprechen, ist sehr schwierig. Denn wenn man ein Gen beeinflusst, hat das eben auch Auswirkungen auf die anderen Gene. Die Nebenwirkungen sind sehr schwer zu kontrollieren. Bei Krebszellen verhält sich das anders, weil sie sich epigenetisch von anderen Körperzellen unterscheiden."
Bei einem aber sind sich Forscher einig: Der Mensch kann seine Gene bis zu einem gewissen Grad steuern. Durch Lebensweise, Ernährung und Sport. Beim Ausdauersport etwa verändern sich 20 Prozent der Gene in ihrer Aktivität. Zum Beispiel solche für die Zuckerverbrennung, den Muskelfaseraufbau und den Kohlenhydrat-Stoffwechsel. Damit liefert die Epigenetik trotz aller offenen Fragen schon jetzt gute Argumente, den eigenen Lebensstil bewusst zu gestalten.