In der spektakulärsten Pressekonferenz der Bundesliga-Geschichte rechnete der damalige Bayern-Trainer Giovanni Trapattoni vor 20 Jahren in seiner legendären Wutrede schonungslos mit einigen Spielern ab – und prägte dabei ein geflügeltes Wort ums andere.
Eisiges Schweigen und bedröppelte Mienen waren am späten Abend des 8. März 1998 zu registrieren, als der Mannschaftsbus des FC Bayern München vor dem Essener Sheraton-Hotel anhielt. Die erfolgsverwöhnten Bayern-Kicker hatten gerade im Gelsenkirchener Parkstadion vor rund 71.000 Zuschauern gegen Schalke 04 den Kürzeren gezogen und die dritte Bundesliga-Niederlage in Folge kassiert. Der Treffer der Königsblauen durch Thomas Linke hatte die Krise des Rekordmeisters noch weiter verschärft. Denn nun war dieser bereits seit fünf Spielen sieglos, hatte schon sieben Punkte Rückstand auf den damaligen Überraschungs-Tabellenführer 1. FC Kaiserslautern und mit einem torlosen Unentschieden gegen Borussia Dortmund im Viertelfinal-Hinspiel der Champions League gewissermaßen den Grundstein für das zehn Tage später erfolgende Ausscheiden aus dem internationalen Wettbewerb gelegt.
Kein Wunder also, dass die Bayern-Verantwortlichen an diesem Sonntagabend stinksauer waren. Allen voran Trainer Giovanni Trapattoni, dessen Stuhl erheblich zu wackeln begann, weil angesichts der jüngsten Misserfolge seine Fähigkeiten in der breiten Öffentlichkeit immer häufiger infrage gestellt wurden. Waren seine Trainingsmethoden antiquiert? Ließ er die Bayern taktisch viel zu defensiv agieren? War das Verhältnis zwischen Coach und Team womöglich zerrüttet?
„Ich will Euch nicht mehr sehen"
Seinen ganzen Frust über das Versagen seiner Spieler ließ Trapattoni, der sonst für sein besonnen-charmantes Auftreten bekannt war, was ihm den ehrenvollen Spitznamen „Maestro" eingetragen hatte, beim nächtlichen Bankett im Essener Hotel heraus. Er schrie, fluchte und war dermaßen in Rage, dass er beim wilden Gestikulieren sogar eine Flasche Rotwein umwarf, deren gesamter Inhalt sich über den Anzug von Manager Uli Hoeneß ergoss. Die legendäre Wutrede vom 10. März 1998 kam also keineswegs aus heiterem Himmel, sondern hatte schon ein Vorspiel.
Als die Mannschaft tags zuvor am frühen Montagmorgen in München gelandet war, war der Trainer immer noch so wütend, dass er all seinen Spielern trainingsfrei gab: „Ich will euch bis Dienstag nicht mehr sehen." Um selbst etwas Abstand zu gewinnen, setzte sich Trapattoni kurzerhand ins Flugzeug nach Mailand, wo er im Kreise seiner Familie in seinem Haus im Vorortstädtchen Cusano Milanino etwas zur Ruhe kommen wollte. Doch daraus wurde offenbar nichts, weil er in seinem Kopf immer wieder die Probleme mit Verein und Spielern durchging.
Vor allem von drei Kickern war er tief enttäuscht: Mario Basler, Mehmet Scholl und Thomas Strunz. Basler und Scholl hatten sich öffentlich vehement darüber beschwert, dass sie auf Schalke nicht in der Anfangsformation gestanden hatten, Strunz hatte zwar Unverständnis über seine Auswechslung in besagtem Spiel bekundet, aber zugleich angemerkt, dass man dennoch stets die Entscheidung des Trainers akzeptieren müsse. Trapattoni dürfte damals beim Grübeln gespürt haben, dass nicht nur Zweifel an seinem Können, sondern auch an seiner Autorität geweckt worden waren.
Still und heimlich vorbereitet
Von daher war es höchste Zeit, Klartext zu reden. Angesichts seiner unzureichenden Deutschkenntnisse allerdings ein alles andere als einfaches Unterfangen. Normalerweise ließ sich Trapattoni vor Presseauftritten zentrale Sätze oder wichtige Wörter von einem Dolmetscher auf ein Stück Papier schreiben. Das kam diesmal nicht infrage, weil Trapattoni davon ausgehen konnte, dass sein Arbeitgeber die von ihm geplante PR-Performance in eigener Sache garantiert verbieten würde. Der Coup musste daher still und heimlich vorbereitet werden. Gleichzeitig unter Zeitdruck, weil Trapattoni den am 10. März 1998 auf 15 Uhr anberaumten Pflichttermin im Presse-„Stüberl" an der Säbener Straße ohne Absprache für seine Klartext-Rede nutzen wollte.
Bevor sich Trapattoni am Morgen des 10. März 1998 ans Steuer seines Dienstwagens, eines dunkelblauen Opel Omega, setzte, um gen München aufzubrechen, hatte er am heimischen Frühstückstisch noch schnell seine wesentlichen Gedankengänge mit Bleistift auf karierten Zetteln aufgeschrieben. Während der Rückfahrt nahm er telefonisch Kontakt zu Gerhard Gotsch auf, einem perfekt Italienisch sprechenden Fußball-Marketing-Fachmann, der sich im Laufe der Zeit zu Trapattonis persönlichem Berater entwickelt hatte. Trapattoni ließ sich von ihm über die neuesten Gerüchte und Spekulationen rund um seine Person aus den deutschen Medien informieren, wobei zwangsläufig nochmals die drei Spielernamen Basler, Scholl und Strunz die wesentliche Rolle spielten. Trapattoni fühlte sich in seinem Vorhaben bestärkt. Er weihte seinen Vertrauten ein. Gotsch versuchte, Trapattoni im letzten Moment zu stoppen. „Mach’ es besser nicht", soll er ihm geraten haben. Wenn überhaupt, dann müssten Emotionen gänzlich außen vor bleiben.
Nur dreieinhalb Minuten
Gotsch war nicht die einzige Person, mit der Trapattoni auf der Fahrt nach München telefoniert hatte. Gleich dreimal wurde er von Bayern-Pressechef Markus Hörwick angerufen, den angeblich ein mulmiges Gefühl wegen der anstehenden Pressekonferenz befallen hatte. Doch Trapattoni hielt sich völlig bedeckt. Nachdem er sein Auto auf dem Trainingsgelände neben dem Eingang des Kabinentrakts geparkt und sich in seinem Zimmer den roten Trainingsanzug mit den drei weißen Streifen des Clubausrüsters angezogen hatte, wechselte er noch einige vertrauliche Worte mit seinem Assistenten Egon Coordes. Trapattoni fühlte sich unverstanden. Weil doch jeder hätte sehen können, wie müde Basler und Scholl schon im Champions League-Match gegen Dortmund aufgetreten seien. Weil er doch keineswegs seinem Team eine defensive Grundtaktik verordnet habe. Und weil es doch kaum möglich sei, mit diesem aktuellen Bayern-Kader die vom Vorstand gewünschte Meisterschaft zu erringen.
Bei Coordes schrillten sogleich alle Alarmglocken. Er befürchtete, dass sein Chef diese Gedanken Augenblicke später auch auf der Pressekonferenz preisgeben könnte. Auch Coordes unternahm daher einen Anlauf, Trapattoni im letzten Augenblick zu bremsen: „Wenn du über die Spieler reden willst, mach’ es in der Kabine. Und auf jeden Fall in deiner Sprache mit Dolmetscher."
Als Markus Hörwick den Bayern-Trainer zum Medienraum geleitete, schwante ihm angesichts der Notizzettel in Trapattonis Hand nichts Gutes. Dennoch nahmen die beiden Männer kurz nach 15 Uhr Seite an Seite auf dem Podium des „Stüberls" Platz, wo sich rund 40 Journalisten noch ziemlich gelangweilt und ohne jegliche Sensationserwartungen um drei Bistro-Tische drängten.
„Was erlauben Struuuunz?"
Was folgte, lief wie ein Spuk ab. Die gesamte Pressekonferenz dauerte noch nicht einmal dreieinhalb Minuten. Trapattonis Worte-Stakkato war schon nach genau 116 Sekunden beendet. Dann hatte der Maestro „fertig". Anfangs beim Thema Taktik war Trapattoni, die Spickzettel vor sich ausgebreitet, noch sichtlich darum bemüht, nicht zu impulsiv zu reden, weshalb er zunächst leise und bedächtig begann. Obwohl er keinen einzigen grammatikalisch richtigen Satz zustande brachte, konnte der Sinn des Ganzen mit gutem Willen doch verstanden werden. Doch als er die Namen Basler, Scholl und wenig später auch Strunz in den Mund nahm, war es mit seiner Zurückhaltung vorbei. Diese Spieler, die er wie alle anderen immer geschützt hatte, waren ihm aus seiner Sicht in den Rücken gefallen. „Ein Trainer ist nicht ein Idiot!", brach es aus ihm heraus. Und weiter unter Pulsrasen und mit blinzelnden Augen bezüglich der bescheidenen Kickerleistungen im Champions-League-Spiel gegen Dortmund: „Ein Trainer sehen was passieren in Platz. In diese Spiel es waren zwei, drei oder vier Spieler, die waren schwach wie eine Flasche leer!"
Dass danach vor allem Thomas Strunz das meiste Fett abbekam, obwohl dessen Äußerungen Richtung Trapattonis Aufstellungs-Taktik vergleichsweise harmlos waren, konnte niemand so recht nachvollziehen: „Strunz! Strunz ist zwei Jahre hier, hat gespielt zehn Spiele, ist immer verletzt. Was erlauben Strunz?" Wobei Trapattoni den Namen mit mindestens vier u in die Länge zog: „Was erlauben Struuuunz?" Das Ende seiner Wutrede, bei der er mit südländischem Feuer die deutsche Sprache aus den Fesseln ihrer komplexen Grammatik befreit hatte, bildete dann die längst zum geflügelten Wort aufgestiegene Schlusssequenz: „Ich habe fertig!"
Im Rückblick kann Trapattoni über diese legendäre Pressekonferenz nur noch schmunzeln. Und er beteuert, dass es damals nicht seine Absicht gewesen sei, einzelne Spieler an den Pranger zu stellen. Er sei sauer auf die gesamte Mannschaft gewesen und habe diese einfach nur wachrütteln wollen.