Das Mitgliedervotum der SPD geriet zum Spektakel der Superlative. Das Ergebnis war deutlich, die Euphorie über eine erneute Regierungsbeteiligung überschaubar.
Ein DHL-Lkw hält vor der SPD-Zentrale in Berlins Mitte, der Mitarbeiter lässt die hydraulische Ladebühne runter, springt rauf und zieht eine Europallette mit roten Postkisten aus dem Innern. Gespannt verfolgen etwa 30 Kamerateams aus halb Europa die Szene. Ein Fotograf springt auf die Hebebühne, er braucht den drahtigen Paketmann noch dringend aus der „Totale von oben, bitte“. Drei Jugendliche von Gegenüber vermuten einen Werbedreh, wobei einer der Jungs scharfsinnig feststellt: „Is‘ Abend, viel zu dunkel für Werbeclip, machst du keine guten Bilder!“
Es sind die Abstimmungsbriefe des SPD-Mitgliedervotums, die da unter massiven Polizeischutz und ebenso massivem Medienaufgebot vom Lkw ins Willy-Brandt-Haus verbracht werden. An der Tür registriert ein Notar die angelieferte Post. Auch er ein Bild-Motiv des Abends: „Mann mit Klemmbrett und einem Stift in der Hand, in einer offenen Tür“, Journalismus-Alltag nach fünf Monaten Regierungssuche. Dass die Hochschlitzmaschinen pro Stunde 20.000 Briefe öffnen, wurde ebenfalls ausführlich in den Fernsehnachrichten besprochen, dafür hat die SPD-Pressestelle gesorgt. Noch nie wurde das Anliefern und Öffnen von Briefen derart inszeniert wie beim SPD-Mitgliedervotum. Führende SPD-Politiker hatten ja immer wieder verkündet, ganz Europa schaut bei der Auszählung der Stimmen auf die SPD. Briefe öffnen als Fernsehevent, so einfach war Unterhaltung noch nie.
Sonntagmorgen um kurz nach acht. Deutschland kann aufatmen, keine der Hochschlitzmaschinen ist über Nacht heiß gelaufen, alle Zettel konnten ausgezählt werden, verkündet der Ereigniskanal der ARD erleichtert.
Man filmt sich gegenseitig ...
Vor dem Eingang der SPD-Zentrale hat sich bei minus 10 Grad und eisigem Ostwind eine riesige Schlange von Journalisten gebildet. Die Taschen und Rucksäcke müssen kontrolliert werden, auch dieser Umstand schafft es in die Fernsehnachrichten. Immerhin berichten an diesem Sonntagmorgen bereits um 8.30 Uhr fünf Fernsehsender live vom großen Augenblick des Zettelzählens. Leider sind die Einschaltquoten für derart spannende Übertragungen unbekannt.
Kurz vor der Verkündung des Ergebnisses machen die Zählmenschen aus der Nacht von den Balkonen des Atriums im Innern der SPD-Zentrale mit den unten stehenden Journalisten ihre Späßchen. Man filmt sich gegenseitig, was man halt so tut, wenn sich nichts tut. Dann ist es so weit: Schatzmeister Dietmar Nietan und der kommissarische SPD-Chef Olaf Scholz betreten die kleine Bühne. Der Parteikassenwart bedankt sich bei allen, bei denen man sich so bedanken kann, verkündet mehr als umständlich das Ergebnis und ... es herrscht absolute Ruhe! Kein Jubel, kein gar nichts, Totenstille, obwohl die SPD nun endlich mitregieren kann. Nach diesem wochenlangen Riesen-Tamtam um das Votum nun verordnete Stille, so, als sei der SPD-Führung ihr Erfolg total peinlich. Olaf Scholz zieht eine Miene, als hätte er vor wenigen Sekunden alles verloren, was man nur verlieren kann. Mit völlig versteinertem Gesicht und mechanisch wirkend gibt er seinen Kommentar ab, dessen Inhalt jeder der Anwesenden sofort wieder vergessen hat. Oben, auf dem Balkon im vierten Stock, versteckt zwischen Parteifreunden, steht die zukünftige SPD-Chefin Andrea Nahles, auch sie völlig gesichtsstarr. Typisch Nahles, möchte man denken, bloß nicht Position beziehen und schon gar nicht vor den Kameras. Die Bilder könnte man ja irgendwann mal aus den Archiven ziehen, spätestens wenn es schief gehen sollte mit der Großen Koalition. Dieses Versteckspiel hat sie schon im Wahlkampf perfekt drauf gehabt, bloß nicht auf einer Bühne neben Schulz stehen, das könnte nach hinten losgehen. Da waren vorne immer andere, und wenn sich ein gemeinsamer Auftritt gar nicht verhindern ließ, hielt sich Nahles möglichst weit hinten auf.
Unten im Atrium dürfen an diesem Sonntagmorgen noch drei kurze Fragen gestellt werden, dann verschwinden Scholz und sein Schatzmeister wieder, 7 Minuten und 38 Sekunden dauerte ihr großer Auftritt, beide haben es geschafft, keine Miene zu verziehen, Journalisten und die Zählmenschen bleiben ratlos zurück.
Auch tags drauf, bei der traditionellen SPD-Presserunde nach Präsidium und Vorstand, geben sich alle Beteiligten betont gleichgültig. Es entsteht der Eindruck, bei dem Mitgliedervotum handelt es sich um ein Ergebnis aus einem Paralleluniversum. Derweil wird der nächste Coup schon vorbereitet: Wer bekommt welchen Posten in der neuen Regierung?
... und am Schluss lächelt sogar Scholz
Wieder soll es ganz spannend gemacht werden. Bis zum Ende der Woche will man die Spannung hoch halten. Erst am Freitag soll das große Geheimnis gelüftet werden. Doch bereits einen Tag vorher ist eigentlich alles klar. Aus Spekulationen wurden durch die scheinbar unvermeidlichen Indiskretionen Gewissheiten. Es war am Weltfrauentag. Das bundesweite SPD-Frauentreffen findet im Ballhaus Rixdorf statt, einer Minilocation in Berlin-Neukölln.
Das Ballhaus ist proppenvoll, die eine Hälfte Frauen, Genossinnen, die andere Hälfte Männer, Journalisten. Bei ihrer Ansprache bringt es die designierte Parteichefin Andrea Nahles tatsächlich fertig, auf die aktuellen Gegebenheiten überhaupt nicht einzugehen. Neben der Verkündung vieler ihrer Erfolge findet auch noch die Anekdote über den Schulranzenkauf mit ihrer Tochter Erwähnung, das war‘s! Nahles und ihre Entourage rücken ab, Interviews unerwünscht.
Freitagmorgen, wieder SPD-Zentrale. Ein Kameramann mault, weil er genau diesen Hintergrund neulich schon mal ablichten musste. Die schreibende Zunft findet auch keine rechte Schlagzeile mehr, denn die SPD-Ministerriege, die jetzt offiziell vorgestellt wird, ist inzwischen bekannt. Schließlich schlurfen der Kommissarische und die Zukünftige zur Bühne, Vorhang die Letzte.
Wie in der Schulaula stellt Scholz die Frauen vor, dann macht Nahles die Männer. Nicht nur die beiden Laudatoren schlafen bei ihrer Präsentation bald ein, auch die zukünftigen Minister und natürlich Ministerinnen wirkt eher abwesend, uninspiriert. Doch dann, beim Abgang, geschieht das Unvorstellbare: Olaf Scholz lächelt! Ein breites Lächeln, als hätte er in diesem Augenblick den gleichen Gedanken gehabt, wie der geneigte Beobachter der Szenerie: „Endlich ist dieser Spuk vorüber.“