Vor? Zurück? Wie denn nun? Und überhaupt: Muss das sein, dieses Hin und Her zwischen Winter- und Sommerzeit? Die Zeitumstellung schlägt auf Körper und Seele, heißt es. Sie wird zunehmend unbeliebter. Bürger und Politiker aller Couleur sind inzwischen für die Abschaffung der Regelung.
Aufstehen gefühlt um 6 statt um 7 Uhr: Seit über 20 Jahren stellen die Deutschen im Frühjahr die Uhr eine Stunde vor. Besser, man hält sich an diese Vorschrift, sonst geraten soziales und berufliches Leben aus den Fugen. Dass sie aber wirklich sinnvoll ist, glauben indes nur noch wenige. Die jüngsten Umfragen von Forsa im Auftrag der DAK aus dem vergangenen Herbst zeigen, dass 72 Prozent der Deutschen die Umstellung am liebsten abschaffen möchten. 2015 lag die Ablehnung unter den Deutschen noch bei „nur“ 56 Prozent.
Die ungeliebte Zeitumstellung ist auch ein häufiges Thema für Petitionen beim Deutschen Bundestag – dort kann jeder Bürger eine Eingabe machen, wenn ihm etwas missfällt. In der abgelaufenen Wahlperiode von 2013 bis 2017 drehten sich allein 618 Petitionen um die Zeitumstellung – mutmaßlich die meisten forderten ihre Abschaffung.
618 Petitionen gegen die Zeitumstellung
Die Botschaft all dessen ist die gleiche: Die Umstellung nervt. Hubertus Hilgers sieht die Sache noch ernster. Der Arzt aus Erlangen beobachtet die Folgen der Zeitumstellung seit vielen Jahren: „Lebewesen verfügen über innere Uhren, die die Körperfunktionen steuern. Dieser Mechanismus synchronisiert sich mit der Umwelt, vor allem orientiert er sich am Sonnenlicht.“ Bei einer Zeitverschiebung gerate diese innere Uhr aus dem Rhythmus und aus dem Gleichgewicht und mit ihr unsere einzelnen Organzyklen. „Uns fehlt die eine Stunde Schlaf. Wir sind müde, unkonzentriert und fühlen uns schlapp. Abends dagegen fühlen wir uns fit, obwohl es 23 Uhr ist und wir normalerweise um diese Zeit schlafen gehen. Aber unsere innere Uhr weiß genau: Es ist erst 22 Uhr.“
Einige Studien behaupteten sogar, dass die Zahl der Herzinfarkte und Schlaganfälle in den ersten Tagen nach der Umstellung deutlich höher sei als sonst. Das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag hat in einer umfassenden Untersuchung im Frühjahr 2016 wissenschaftliche Abhandlungen dazu verglichen und formuliert es vorsichtiger: „Neue Erkenntnisse auf der Grundlage von Untersuchungen zum Schlaf-wach- beziehungsweise Ruhe-Aktivitäts-Rhythmus liefern Hinweise darauf, dass der Anpassungsprozess selbst binnen vier Wochen nach der Umstellung möglicherweise nur unvollständig gelingen kann.“
Der Mediziner Hilgers glaubt nicht an diesen Anpassungsprozess: „Das siebenmonatige Leben in der falschen Zeit ist eine Gefahr, weil man das Gefühl hat, sich daran zu gewöhnen – irrtümlicherweise!“ Tatsächlich lebe man dauerhaft mit einem „sozialen Jetlag“. Hilgers glaubt nicht, dass der Körper sich an die andere, „falsche“ Zeit gewöhnen könne. Im Gegenteil: „Hier passt die alte Geschichte vom Frosch, der überlebt, wenn man ihn in heißes Wasser wirft, weil er dann sofort wieder rausspringt. Aber er stirbt in einem Wassertopf, dessen Wasser langsam erhitzt wird. Die Gewöhnung ist ein fataler Irrtum für den Frosch. Das gleiche gilt für den Menschen bei der Zeitumstellung“, so Hilgers‘ radikale Konsequenz. Noch schlimmer treffe es daher die westeuropäischen Länder Frankreich, Belgien, Holland, Luxemburg und Spanien. Die Menschen dort müssten ohnehin in einer „falschen“ Zeitzone leben, weil für sie eigentlich eine westeuropäische Zeit richtig wäre. „Durch die zusätzliche Uhrzeit-Verschiebung im Sommer leben die Menschen in Westeuropa sogar über zwei Stunden vor dem Sonnenrhythmus.“ Das habe schwere Gesundheitsfolgen, von schlechterem Gedächtnis, schwächeren Immunsystem, bis hin zu größerer Krankheitsneigung, so Arzt Hilgers. Die von ihm gestartete Gesundheits-Petition „Momo“ verzeichnet inzwischen über 94.500 Unterstützer für die Beibehaltung der Normalzeit.
Längst ist das Thema in den Parlamenten angekommen. Die politischen Fronten verlaufen dabei vollkommen unabhängig vom Rechts-links-Schema. Ein Antrag der Fraktion der Linken im Bundestag zur Abschaffung der Sommerzeit wurde im Juni 2017 mit den Stimmen der Großen Koalition abgelehnt – obwohl in der CDU/CSU viele eigentlich für die Abschaffung sind, aber eine gemeinsame Abstimmung mit der Linken gilt in der Union nun mal als unfein. Die FDP hat vor ein paar Monaten in den Jamaika-Verhandlungen die Abschaffung der Sommerzeit gefordert. Daraus wurde bekanntlich nichts, aber daran sind die Verhandlungen bestimmt nicht gescheitert.
Zuletzt hat am 8. Februar 2018 das EU-Parlament mit großer Mehrheit in einer Resolution die EU-Kommission aufgefordert, die entsprechende Richtlinie gründlich zu prüfen und „falls notwendig einen Vorschlag zu seiner Revision zu machen“. In der Debatte plädierten Abgeordnete quer durch alle Fraktionen, also Liberale, Konservative, Grüne wie Sozialisten für die Abschaffung der heutigen Sommerzeit. Die EU-Kommission hat bislang immer betont, dass es keinen „Flickenteppich“ geben dürfe. Das wird auch allgemein akzeptiert, darum forderten die meisten Parlamentarier auch eine einheitliche Abschaffung für die gesamte EU.
Stark sind die Unterstützer auch in Ländern wie Irland und in Frankreich oder, ganz besonders, in Finnland. In Helsinki, der Hauptstadt, hat ein Sommertag 18 Stunden Tageslicht. Die Verschiebung ist dort besonders sinnlos und eine Petition sammelte dort über 70.000 Unterschriften. In Finnland unterstützt nun auch die Regierung die Abschaffung, nachdem einige Experten im dortigen Parlament die gesundheitlichen Folgen wie Schlafstörungen und geringere Leistungsfähigkeit auf Arbeit thematisiert haben.
Offensichtlich schwindet allgemein die Bereitschaft, den Sinn der Zeitumstellung nachzuvollziehen. Gerechtfertigt wurde die Idee in den 70er-Jahren mit der damaligen Energieknappheit und der wissenschaftlich unterlegten Vermutung, dass man damit Energie sparen könne, weil die Menschen faktisch früher ins Bett gingen und daher am Abend weniger lange Licht brennen und elektrische Geräte laufen ließen. Inzwischen ist klar, dass das nicht stimmt. Die Studie des Büros für Technikfolgenabschätzung des Bundestages kommt zum Ergebnis, dass „die (mögliche beziehungsweise tatsächliche) Energieeinsparung allenfalls minimal ausfällt“. Der „diesbezügliche wissenschaftliche Kenntnisstand“ sei allerdings „begrenzt, unvollständig oder widersprüchlich“.
So bleibt die Erkenntnis, dass die Zeitumstellung gesundheitlich problematisch ist, die meisten Menschen heute nur noch nervt und sie nicht den versprochenen Nutzen bringt. Warum gibt es sie dann?
Russland: Nach drei Jahren war Schluss
Die beste Erklärung ist die, dass man an ihr festhält, weil es so mühsam war, sie einzuführen. Als im Ersten Weltkrieg in Deutschland die Versorgung mit Petroleum kritisch wurde, entschied die Reichsregierung unter Kaiser Wilhelm II.: „Der 1. Mai 1916 beginnt am 30. April nachmittags elf Uhr [also um 23 Uhr, Anm. d. Red.] nach der gegenwärtigen Zeitrechnung.“ Seit Jahren schon hatten in England und im Deutschen Reich Aktivisten für die Einführung der Sommerzeit gekämpft, aber in Friedenszeiten gelang es ihnen nicht, erst im Krieg: Der Verbündete Österreich-Ungarn zog natürlich noch am gleichen Tag mit, die Kriegsgegner folgten nur Tage oder Wochen später. Nach Ende des Krieges haben die meisten Staaten die Regelung wieder abgeschafft, erst Hitler kramte 1940 die Idee wieder hervor. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg verging den meisten Ländern schnell die Lust daran.
Erst die Ölkrise in den 70er-Jahren ließ die Regierungen rund um den Globus wieder auf die alte Idee kommen und seit 2000 regelt eine EU-Richtlinie die einheitliche Zeitumstellung in der EU. Ob sich die EU-Kommission zu einem Vorschlag zu dessen Abschaffung durchringen kann, wird sich zeigen. Immerhin hat auch Russland die Zeitumstellung 2014 wieder abgeschafft – nach nur drei Testrunden. Das genügte als Erfahrung.