Auch wenn Schwindel keine Krankheit ist, so leiden doch zehn Prozent aller Deutschen regelmäßig an einer Störung des Gleichgewichtssystems. Erfreulicherweise kann den Betroffenen aber in 95 Prozent aller Fälle geholfen werden.
Jeder dürfte das Gefühl mehr oder weniger wohliger Taumeligkeit nach einer Achterbahnfahrt, nach ausgiebigen Walzer-Drehungen oder einem feucht-fröhlichen Abend kennen. Alles kein Problem, weil die Welt danach schnell von allein wieder ins Lot kommt. Doch was, wenn man ständig wie ein Schiff auf hoher, stürmischer See durch das eigene Leben schaukelt, man beim unfreiwilligen Karussellfahren oder Kreiseln im Kopf die Balance auf Dauer verliert? Betroffene können ein Lied davon singen.
Etwa jeder zehnte Deutsche leidet nach Expertenschätzungen mehr oder weniger regelmäßig unter Schwindel. Laut Angaben des Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrums, das beim Klinikum der Universität München angesiedelt ist, muss jeder vierte Deutsche im Laufe seines Lebens damit rechnen, dass bei ihm mindestens einmal krankhafte Schwindelbeschwerden auftreten.
Dabei muss aber ausdrücklich festgehalten werden, dass Schwindel keine Krankheit ist, sondern stets der Hinweis oder besser noch ein Alarmsystem des Gehirns, dass eine Störung im Gleichgewichtssystem unseres Körpers vorliegt. Schwindel, nach Kopfschmerzen das häufigste Symptom im Bereich des Nervensystems, hat also ähnlich wie der Schmerz zunächst mal eine Warn- und Schutzfunktion. Er ist selten lebensbedrohlich, meist gutartig im Spontanverlauf oder wirkungsvoll behandelbar.
Theoretisch kann jeder davon betroffen sein. Während allerdings in jüngeren Jahren nur jeder Sechste darunter zu leiden hat, nimmt das Gesundheitsproblem, das in der Fachsprache Vertigo genannt wird, in der zweiten Lebenshälfte und vor allem im Alter deutlich zu. Bei den über 80-Jährigen klagen fast 40 Prozent über regelmäßige Schwindelattacken. Diese werden häufig von den Medizinern unter der Bezeichnung „Altersschwindel" subsumiert, weil die Ursachen meist nicht eindeutig oder vielfältig sind – von altersbedingten Durchblutungsstörungen bis hin zu Verzögerungen in der Informationsverarbeitung durch das Gleichgewichtsorgan im Innenohr.
Abfinden muss sich allerdings niemand mit den Beschwerden, weil laut dem Neurologie-Professor Michael Strupp vom Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrum den Betroffenen in 95 Prozent aller Fälle geholfen werden kann: „Man muss damit nicht leben. Der Patient sollte nicht lockerlassen, bis die richtige Diagnose gestellt und eine wirksame Therapie eingeleitet worden ist." Früher mussten Betroffene häufig eine wahre Odyssee vom Hausarzt über den Neurologen oder Internisten bis hin zum Psychiater auf sich nehmen. Doch inzwischen gibt es bundesweit an großen Krankenhäusern Schwindelambulanzen mit fächerübergreifenden, interdisziplinären Spezialistenteams.
Was ist Schwindel? Aus medizinischer Sicht handelt es sich entweder um eine unangenehme Störung der räumlichen Orientierung oder um die fälschliche Wahrnehmung einer Bewegung des Körpers beziehungsweise der Umgebung. Eine rasante Karussellfahrt kann das Gleichgewichtssystem nur kurzfristig irritieren. Manche Krankheiten allerdings können seine Funktion nachhaltig beeinträchtigen. Meist handelt es sich dabei meist um Erkrankungen im Innenohr, wo das Gleichgewichtsorgan und der Gleichgewichtsnerv sitzen, oder um Störungen im Gleichgewichtszentrum im Gehirn. Aber auch psychische Faktoren oder natürliche Abnutzungserscheinungen im Alter können dabei eine Rolle spielen.
Meist handelt es sich um Erkrankungen im Innenohr
Um zu verstehen, wie Schwindel zustande kommen kann, ist es wichtig zu wissen, wie der Gleichgewichtssinn funktioniert, ohne den Menschen weder aufrecht stehen noch laufen könnten. Die Balance zu halten in einer Welt, die aus oben und unten, vorne und hinten, rechts und links besteht, ist für den menschlichen Körper keine leichte Aufgabe. Deshalb bedient er sich dafür dreier Systeme, deren Informationen allesamt an die übergeordnete Instanz, das Gleichgewichtszentrum im Hirnstamm, weitergeleitet und dort verarbeitet werden. Im Mittelpunkt steht das vestibuläre System, das Gleichgewichtssystem im engeren Sinne. Es umfasst die beiden Gleichgewichtsorgane (Vestibularorgane) in beiden Innenohren und den Gleichgewichtsnerv. Der wesentliche Teil der Gleichgewichtsorgane besteht aus je drei mit Flüssigkeit gefüllten Bogengängen, in denen sich Sinneszellen befinden. Diese Bogengänge und auch ihre beiden ebenfalls mit Sinneszellen ausgestatteten Vorhofsäckchen (die Maculaorgane namens Saculus und Ultriculus), die im vom Felsenbein umgebenen Innenohr nebeneinanderliegen, sind für die Wahrnehmung von Drehbewegungen des Kopfes oder des Körpers mitsamt dem Kopf im Raum (Bogengänge) beziehungsweise zum Erkennen linearer Beschleunigungen etwa beim Autofahren verantwortlich.
Diese Informationen werden ergänzt von oder abgeglichen mit den Meldungen der Augen (optisches System), die aufzeigen, wo wir uns gerade bewegen. Zusätzlich werden noch Lageberichte der Drucksensoren der Haut und der Rezeptoren von Gelenken sowie Muskeln bereitgestellt (propriozeptives System). Probleme wie Schwindel entstehen, wenn die Informationen, die im Gleichgewichtszentrum eintreffen, widersprüchlich sind beziehungsweise erscheinen und deshalb nicht zueinanderpassen. Sie entstehen natürlich auch, wenn zwar richtige Informationen ankommen, die zentrale Schaltstelle im Gehirn diese aufgrund von Funktionsstörungen aber nicht richtig verarbeiten kann. Das häufige Auftreten von Übelkeit oder Brechreiz in Verbindung mit Schwindel rührt daher, dass der Gleichgewichtsnerv und der für fast alle inneren Organe (mithin auch den Magen) zuständige Nervus vagus im Hirnstamm direkt nebeneinanderliegen.
Schwindel lässt sich, je nachdem wie sich der Anfall für den Betroffenen anfühlt, in vier Hauptformen unterteilen.
Drehschwindel ist häufig mit Übelkeit verbunden. Man hat das Gefühl, als würde die Welt wie auf einem Karussell um einen herumwirbeln. Beim Schwankschwindel scheint sich der Boden wie auf einem Schiff bei starkem Seegang zu bewegen. Vom Liftschwindel Betroffene fühlen sich wie in einem anfahrenden oder stoppenden Fahrstuhl mit einem sich scheinbar hebenden oder senkenden Boden.
Außerdem gibt es den Pseudo-Vertigo, der sich in Benommenheit, Sehstörungen, Schwarzwerden vor den Augen oder „Watte im Kopf" äußert. Dabei handelt es sich, wie der Name schon sagt, nicht um einen echten Schwindel.
Legt man das Verursacherprinzip zugrunde, sprich geht man vom Auslöser des Schwindels aus, so lassen sich im Wesentlichen vier Schwindelarten unterscheiden: peripher-vestibulärer Schwindel (oder: peripherer Schwindel), nicht-vestibulärer Schwindel, zentral-vestibulärer Schwindel (oder: zentraler Schwindel), psychosomatischer Schwindel (oder: somatoformer Schwindel, alternativ: psychogener Schwindel).
Beim peripher-vestibulären Schwindel handelt es sich um Störungen des Gleichgewichtsorgans oder des Gleichgewichtsnervs im Innenohr (vestibulär: den Gleichgewichtssinn betreffend). Hierunter fällt eine ganze Reihe von Schwindelsyndromen, die vom Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrum nach Auswertung von fast 18.000 Patienten-Akten auf einer aktuellen Liste der häufigsten Schwindelursachen präsentiert wurden. Der Großteil der von Schwindelattacken Betroffenen, genau 17,1 Prozent, leidet demnach unter einem gutartigen (benigner peripherer paroxymaler) Lagerungsschwindel. Diese Form von Drehschwindel entsteht durch die (möglicherweise durch den normalen Alterungsprozess bedingte) Ausbildung und Ablagerung von Kalziumkristallen (Otolithen) in den Bogengängen. Das führt dort dann zu einer Irritierung. Durch Lagerungstraining, „Befreiungsmanöver" genannt, ist es aber gut therapierbar.
Morbus Menière wurde bei 10,1 Prozent der Patienten diagnostiziert. Infolge einer Störung der Innenohr-Flüssigkeit kommt es womöglich zur unheilvollen Trias von Drehschwindel (dauert bis zu einem Tag), Ohrgeräuschen und Hörminderung. Diese Form ist nur durch medikamentöse Langzeitbehandlung kurierbar.
Die Neuritis vestibularis, die Entzündung des Gleichgewichtsnervs, konnte bei 8,2 Prozent der Patienten festgestellt werden. Es kommt dabei zu einem unangenehmen, bis zu zwei Wochen anhaltendem Drehschwindel mit Fallneigung, Übelkeit und Erbrechen. Man therapiert diese Form durch eine Kombination aus Medikamenten und Gleichgewichtstraining.
Die Reisekrankheit ist eine Sonderform des Schwindels
Bei der bilateralen Vestibulopathie, bei 7,1 Prozent der Patienten festgestellt, sind beide Gleichgewichtsorgane gestört oder gar nicht mehr funktionstüchtig. Es tritt ein Schwankschwindel auf, auch Unschärfen beim Sehen kommen häufig vor. Als Therapie ist intensives Gleichgewichtstraining nötig.
Bei der Vestibularisparoxysmie (3,7 Prozent), die womöglich durch Nervenfaser-Störungen hervorgerufen wird, handelt es sich meist um spontane, nur relativ kurz anhaltende Schwindelattacken (meist Drehschwindel) verbunden mit Fallneigung. Hier setzt man Medikamente ein.
Bei Störungen im Gleichgewichtszentrum des Gehirns, wofür eine Schädigung des Hirnstamms, des Kleinhirns oder seltener des Großhirns ursächlich sein können, spricht man vom zentral-vestibulären Schwindel. Er wurde bei 12,3 Prozent der Betroffenen festgestellt und kann sich in Symptomen wie anhaltendem Dreh- oder Schwankschwindel manifestieren, häufig auch noch von weiteren Gesundheitsproblemen wie Doppelsehen oder Schluckbeschwerden begleitet. Als Ursachen kommen Durchblutungsstörungen, kleine Hirninfarkte oder auch ein Tumor infrage. Hier hilft nur eine Behandlung der ursächlichen Krankheit.
Überraschend und wenig bekannt ist, dass es auch einen Migräneschwindel gibt. An vestibulärer Migräne, die sich in Dreh- oder Schwankschwindel-Attacken bemerkbar macht, häufig verbunden mit Kopfschmerzen, hatten 11,4 Prozent der Untersuchten zu leiden. Betablocker zur Migränebehandlung verschaffen hier Besserung.
Beim psychosomatischen Schwindel können keinerlei körperliche Ursachen festgestellt werden. Vielmehr handelt es sich beim phobischen Schwankschwindel, bei 15 Prozent der Untersuchten festgestellt, um eine plötzlich auftretende Gangunsicherheit oder einen Schwankschwindel, der ausgelöst wird durch bemüht-ängstliches Aufrechterhalten oder Selbstbeobachten der eigenen Balance. Er tritt oft in Verbindung mit Schweißausbrüchen oder Herzrasen auf. Meist tauchen die Attacken in von den Betroffenen als bedrohlich empfundenen Situationen wie Durchschreiten leerer Räume, Überqueren von Brücken oder Anstellen in Kassen-Warteschlangen auf. Durch eine Erklärung des Leidensmechanismus, Verhaltenstherapie und gegebenenfalls Medikamente kann Betroffenen aber geholfen werden.
Beim nicht-vestibulären Schwindel funktionieren alle für das körperliche Gleichgewicht zuständigen Organe und Schaltzentralen völlig normal. Die Auslöser der Schwindelbeschwerden liegen also in anderen Körperbereichen. Ursachen können beispielsweise Kreislaufstörungen, Herzrhythmusstörungen, Blutarmut oder ein niedriger Blutzuckerspiegel sein.
Eine Sonderform des Schwindels ist die Reisekrankheit. Bei ihr ist der Gleichgewichtssinn irritiert, weil die Wahrnehmung der Umwelt durch die Augen (Ruhe) und das Gleichgewichtsorgan im Ohr (Bewegung) beispielsweise unter Deck auf einem schwankenden Schiff oder beim Lesen eines Buches in einem dahinrasenden Fahrzeug nicht übereinstimmen.