Familienministerin Franziska Giffey (SPD) ist durch die harte Schule von Neukölln gegangen. Sie hat pragmatische Grundsätze, ist überzeugt, dass Bildung der Schlüssel fürs Leben ist und kann spontan reagieren.
Das Fernsehinterview mit der neuen Familienministerin plätscherte fast gemütlich vor sich hin. Doch bei der Frage, ob der aktuelle Hartz-IV-Satz nicht höher sein müsste, damit er zum Leben reicht, war Schluss mit lustig: „Es geht darum, dass eigentlich der Abstand zu denjenigen, die arbeiten, größer sein müsste", entgegnete Franziska Giffey.
Eingefleischten Sozialdemokraten stellen sich bei diesem Thema die Nackenhaare auf. Seit der Einführung von Hartz IV unter der rot-grünen Bundesregierung 2004 hat sich gut die Hälfte ihrer Wähler verabschiedet. Doch Giffeys Ansatz hat mit ihren Neuköllner Erfahrungen zu tun. Ihr Ziel ist es, dass viele für die Arbeit wieder einen Anreiz brauchen, um nicht den ganzen Tag herumzusitzen und über die Höhe der staatlichen Alimentierung zu maulen.
Drei Jahre war Franziska Giffey Bürgermeisterin von Berlin-Neukölln. Gut 330.000 Menschen leben in dem Berliner Bezirk, 77.000 davon beziehen Hartz IV. In manchem Kiez ist Hartz IV bereits seit Generationen ein Lebensmodell, früher hieß es Sozialhilfe. Wenn Trash-TV-Macher junge Menschen suchen, die als Beruf „Hartzer" angeben, werden sie in Neukölln nicht lange suchen müssen.
Franziska Giffey kam mit 19 aus Fürstenwalde nach Berlin und begann an der Humboldt-Uni ein Lehramtsstudium. 1998 wechselte sie an die Fachhochschule für Verwaltung und Recht und ließ sich bis 2001 zur Diplom-Verwaltungswirtin ausbilden. Nach dem Abschluss ihres Studiums arbeitete Giffey von 2001 bis 2002 im Büro des Bezirksbürgermeisters von Treptow-Köpenick. Dann lockte Neukölln, zunächst als Europabeauftragte (2002–2010). Das heißt, sie musste unter anderem EU-Fördergelder für den auch finanziell erheblich gebeutelten Bezirk klarmachen. Eine Grünanlage hier, Kindergartenmöbel da, wenn in Neukölln ein Schild „Gefördert mit EU-Mitteln" auftauchte, steckte oft sie dahinter. Europapolitische Erfahrungen sammelte sie bei der EU-Vertretung des Landes Berlin in Brüssel und 2005 bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. 2009 promovierte sie über „Bürgernähe der EU".
Schließlich wurde sie 2010 Bildungsstadträtin – und lernte das Leben von einer ganz anderen Seite kennen, die sie selber „nicht für möglich gehalten hätte". Da gab es „Stadtteile, da war es selbstverständlich, dass da über Generationen innerhalb der Familie geheiratet wurde", erzählt die 39-Jährige heute noch empört. Die Mädchen wurden gar nicht erst gefragt und die Eltern legten auf den Schulbesuch nicht wirklich Wert. Der, so Giffey, wurde als „Serviceleistung der Staates empfunden, also nicht bindend, sondern als Zusatzleistung, wenn sich gerade nichts anderes anbietet". Heute sieht sie diese Zeit als ihre „Erweckung" an, aus der sich drei politische Grundsätze ableiten lassen.
Nummer eins: „Gute Politik beginnt für mich beim Betrachten der Wirklichkeit." Diesen Leitspruch hat sie von ihrem politischen Ziehvater und Vorgänger, Heinz Buschkowsky, abgeschaut. Der hatte schon früh vor Parallelstrukturen in der Gesellschaft gewarnt. Franziska Giffey begriff schnell, dass er damit nicht ganz verkehrt lag. Buschkowsky wiederum erkannte ihr politisches Talent. 2015 war dann Wachablösung im Rathaus an der Neuköllner Karl-Marx-Straße. Als Bürgermeisterin setzte sich Giffey für die Vorschulförderung von Kindern ein, machte das Thema Roma-Zuwanderung zum Thema, befürwortete den Einsatz von Wachschutzpersonal an Schulen und stritt auf allen Ebenen um mehr Mittel für lokale Integrationsprojekte.
Nummer zwei ihrer Grundsätze: „Bildung ist der Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben." Dieser Grundsatz ist angelehnt an Giffeys Erfahrungen aus eben Berlin-Neukölln. Nirgendwo anders in Deutschland gibt es so viel Schulschwänzer wie dort. Doch vor allem die Mädchen sind oft nicht selbst schuld am Fernbleiben vom Unterricht. Die Eltern sehen einfach nicht die Notwendigkeit, ihre Töchter in die Schule zu schicken, wenn die ohnehin recht bald verheiratet werden und sich dann um die Familie kümmern. Teils tun sich da Welten auf, die sich nicht so richtig vertragen mit der Wahrnehmung vieler Sozialdemokraten – mit der Meinung, Multikulti sei schon ziemlich gut gelaufen.
Giffeys drittes Leitmotiv könnte man nennen: „Immer an die Lage angepasst reagieren." Eine Kostprobe ihres politisches Instinkts gab es lang vor ihrer offiziellen Einführung als Familienministerin auf dem SPD-Frauentag: Als hätte sie bereits im vergangenen Sommer geahnt, wohin die Reise geht, wurde der bundesweite Feiertag der Sozialdemokratinnen just im Brauhaus Rixdorf in Neukölln anberaumt. Und es war von vornherein klar, auch die Bürgermeisterin des veranstaltenden Bezirks würde als Gastgeberin auftreten – nach dem Motto „Wer gesendet wird, wird wahrgenommen". Während die zukünftige SPD-Chefin Andrea Nahles da noch mal richtig aufs Gaspedal trat in Sachen „Abschaffen von Paragraph 219a", sich also gegen das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche einsetzte, hielt sich Giffey zurück. Eine Woche später, die neue Regierung ist noch gar nicht gewählt, war die Debatte um den 219a erledigt. Nahles machte einen Rückzieher mit Rücksicht auf die Union. Franziska Giffey hatte es richtig gemacht, sie war gar nicht erst zwischen die Fronten geraten.
Der Lage entsprechend reagieren – das bewies sie auch am Tag der Vereidigung. Giffey und die designierte Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) tauchten im gleichen leuchtend blauen Kostüm auf. Nicht nur für Frauen an so einem Tag der Worst Case. Während Julia Klöckner in der Situation etwas verdruckst schien, reagierte ihre Kabinettskollegin Giffey cool: Ihr Mann schoss los, um eine weiße Plastikblume zu organisieren. Dieses simple Accessoire wurde kurzerhand ans Jackett gesteckt –und schon unterschied sich Giffey wieder von ihrer Kabinettskollegin.