Seit dem Volksentscheid vom September 2017 streiten die Berliner Parteien darum, wie das Abstimmungsergebnis zu deuten ist. Dabei könnte doch alles so einfach sein. Oder nicht?
Werfen wir zunächst einen kurzen Blick zurück auf die Abstimmung. Auf dem Stimmzettel wurde seinerzeit klar formuliert: „Der Flughafen Berlin-Tegel ergänzt und entlastet den geplanten Flughafen Berlin-Brandenburg. Der Berliner Senat wird aufgefordert, sofort die Schließungsabsichten aufzugeben". Allein dieser Satz klingt danach, als sei der Senat an das Ergebnis des Volksentscheides gebunden, nach dem Motto: Da 56,1 Prozent mit „Ja" gestimmt haben, muss der Flughafen Tegel offen bleiben. Tatsächlich ist die Abstimmung, je nach persönlicher Haltung leider oder Gott sei Dank, (wohl) doch kein bindendes Votum, das eine unmittelbare und abschließende Rechtssicherheit über den Fortbestand des Flughafens Tegel schafft.
Erfolgreichster Berliner Volksentscheid
Wer genau liest, erkennt nur eine Abstimmung über eine „Aufforderung", nämlich: „Der Senat wird aufgefordert…". Es heißt nicht: „die Schließung des TXL ist unverzüglich und dauerhaft durch den Senat abzuwenden". Und tatsächlich wurde Ende September auch nicht über einen Gesetzesentwurf abgestimmt. Gleichwohl sollten die 56,1 Prozent der abstimmungsberechtigten Berliner für den Senat ein klares Signal sein, dass die Mehrheit sich für den unbefristeten Fortbestand des Flughafens Tegel ausspricht. Denn mehr als über das angekreuzte „Ja" hinaus den Senat aufzufordern, die Schließungsabsichten aufzugeben, konnte der geneigte Bürger bei dieser Abstimmung nicht tun. Insgesamt beteiligten sich 1,7 Millionen Berliner, das Plebiszit ist damit tatsächlich der erfolgreichste Volksentscheid, den es jemals in Berlin gegeben hat.
Weiter hieß es auf der Abstimmungskarte, dass der Senat aufgefordert wird „… alle Maßnahmen einzuleiten, die erforderlich sind, um den unbefristeten Fortbetrieb des Flughafens Tegel als Verkehrsflughafen zu sichern." Spätestens hier stellt sich die Frage, ob der Senat dies wirklich getan hat, also ob er dem demokratisch legitimierten Votum nachgekommen ist.
Und ob er das überhaupt kann. Denn die SPD hat mit ihren Koalitionspartnern aus Linken und Grünen im Koalitionsvertrag eindeutig festgezurrt, dass Tegel geschlossen werden soll. Damit stehen sich das Ergebnis des Volksbegehrens und der Wille des Berliner Senats diametral gegenüber. Was tun?
Dazu kommt, dass nicht in Berlin allein, sondern nur gemeinsam mit Brandenburg und dem Bund über die Flughäfen der Stadt entschieden werden kann. Hat der Regierende Bürgermeister Michael Müller denn im Sinne des Bürger-Votums versucht, Potsdam von der Offenhaltung Tegels zu überzeugen? Nein, ganz im Gegenteil: Anfang November vergangenen Jahres erklärte er zusammen mit dem Ministerpräsidenten Brandenburgs, Dietmar Woidke, Tegel sei zu schließen.
Dabei scheint sich in Brandenburg ein ähnliches Dilemma aufzutun: Parallel zur dortigen Landtagswahl im Herbst 2019 könnte es ebenfalls einen Volksentscheid über die Offenhaltung Tegels geben. Der Start für die Mobilisierung zur Volksinitiative soll am 24. März erfolgen, wie Lars Lindemann, Vorsitzender des Vereins „Brandenburg braucht Tegel" und FDP-Politiker, unlängst in Potsdam erklärte. Die Beteiligung der FDP, die auch das Volksbegehren in Berlin lanciert hat, überrascht nicht. Ebenfalls an Bord sind die Brandenburger Vereinigten Bürgerbewegungen (BVB) und die Freien Wähler, die die landesweite Kampagne in Brandenburg „intensiv vorantreiben" wollen. Dazu sind bis Juni 2018 zunächst 20.000 gültige Unterschriften im Rahmen der Volksinitiative zu sammeln. Weitere 80.000 Unterschriften müssen dann im Rahmen des Volksbegehrens bis März 2019 zusammenkommen. Die Zeichen stehen gut, dass das Vorhaben gelingt.
Derweil hat sich die Berliner SPD bundesrichterlichen Rückhalt geholt, indem sie Stefan Paetow, einen früheren Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht, beauftragt hat, zu untersuchen, wie der Berliner Senat mit dem Ergebnis des Volksentscheides „Berlin braucht Tegel" umzugehen hat.
Paetow hat ein 73 Seiten umfassendes Gutachten abgeliefert, das zu folgendem Ergebnis kommt: Nach geltender Gesetzeslage, nämlich dem gemeinsam von Berlin und Brandenburg erlassenen „Landesentwicklungsplan Flughafenstandortentwicklung" von 2003/2006 muss der Flughafen Tegel nach Inbetriebnahme des Flughafens Berlin Brandenburg geschlossen werden. An diese Gesetzeslage sind alle Gesellschafter der Flughafengesellschaft (und auch diese selbst) gebunden, solange man sie nicht einvernehmlich ändere.
Allerdings sagt Paetow auch: Berlin könne einseitig aus dem Landesplanungsvertrag mit Brandenburg aussteigen und diesen mit Wirkung zum 1. Januar 2022 kündigen. Neue landesplanerische Regelungen könnten allerdings nicht vor 2025 wirksam werden, wenn überhaupt. Paetow: „Erst danach könnte die Aufhebung der Beschlüsse in Angriff genommen", also die Schließung Tegels verhindert werden. Ein aufwendiges und vor allem langwieriges Verfahren also.
Und es wird noch schwieriger: Von dem Single-Airport-Konzept, also der Beschränkung auf den BER als einzigen Flughafen, kann das Land nur dann abrücken, wenn eine „Änderung der tatsächlichen Verhältnisse" dies rechtfertigt. Dieser Fall könnte dann eintreten, wenn „anders als bisher angenommen der künftige BER bereits bei Inbetriebnahme oder kurze Zeit später an Kapazitätsgrenzen stößt." Davon sei allerdings nach derzeitigem Kenntnisstand nicht auszugehen da die Start- und Landebahnen des BER auch für größere Kapazitäten ausreichend seien. Paetow schränkt aber ein: „Ein Engpass erscheint daher – wenn überhaupt – nur für die Abfertigungsanlagen realistisch."
Entscheidung über Flughäfen nur mit Brandenburg und Bund
Unterdessen blieben auch die Tegel-Befürworter aus der FDP nicht untätig. Sebastian Czaja (FDP) holte sich prominente Unterstützung ins Boot. So soll unter anderem der frühere Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement für den Weiterbetrieb des TXL werben. Clement leitete von 2002 bis 2005 das sogenannte „Superministerium" für Wirtschaft und Arbeit, das dabei half, Schröders Agenda 2010 durchzusetzen. Mittlerweile ist Clement nicht mehr Mitglied der SPD. Sebastian Czaja setzt ihn nun in einer vierköpfigen Expertenkommission ein, der unter anderem auch der frühere Leiter der Flugplanung der Lufthansa und Berliner Flughafen-Geschäftsführer Hans-Henning Romberg angehört. Diskutiert wird inzwischen auch, ob das Volksbegehren nicht vielleicht doch mit der Wirkung eines Gesetzesbeschlusses vergleichbar sein könnte. Um hier abschließende Rechtssicherheit zu erhalten, erwägt Czaja die Anrufung des Berliner Verfassungsgerichtshofes. Der Streit um die Deutung des Tegel-Votums geht also weiter – dessen Ausgang bleibt offen.