Steven Tyler ist seit fast 50 Jahren Sänger einer der letzten großen Rockbands: Aerosmith. Am 26. März feiert er seinen 70. Geburtstag.
Ist die Rede vom Artensterben, denken die meisten an Tiger, Gorillas oder Elefanten. Tatsächlich verschwinden aber auch immer mehr Rock-Dinosaurier von der Erdoberfläche. Aerosmith, die legendäre Band um Steven Tyler (69) und Joe Perry (67), sind die amerikanische Antwort auf die Rolling Stones und neben ihnen die einzige Formation, die die Bezeichnung „Rock-Dino" wirklich verdient. Fast ein halbes Jahrhundert lang sind Tyler am Mikrofon und Perry gitarreschwingend an ihre Grenzen gegangen und haben wilde Orgien gefeiert, während aus den Lautsprechern Headbanger-Rock-Hymnen wie „Walk This Way" dröhnten. Bis zu ihrem 50. Bandjubiläum im Jahr 2019 wollen sie noch durchhalten und vielleicht sogar neue Songs aufnehmen.
Tyler und Perry haben im Lauf der Zeit wohl so ziemlich alle Drogen ausprobiert. Nicht ohne Grund werden sie „Toxic Twins" tituliert – in Anlehnung an die „Glimmer Twins" Jagger/Richards. Aber was einen nicht umbringt, macht einen bekanntlich nur stärker. Diese Grenzerfahrung hat sich auch in ihrer Musik niedergeschlagen, eine Mixtur aus Hardrock, Boogie, Rock’n’Roll und Rhythm and Blues mit einer Stimme, die sowohl rotzig klingt als auch Balladen säuselt. Die lebenden Legenden beeinflussten Legionen von jungen Bands und verkauften bis heute 150 Millionen Platten. Die wilden Zeiten sind zwar vorbei, trotzdem können die Auftritte der Altrocker nicht schrill genug sein.
Zum Interview erscheint der vierfache Großvater Steven Tyler mit dunkel lackierten Fingernägeln und im Piratenlook. Der Mann mit der dicksten Lippe im Rock’n’Roll, den langen graumelierten Haaren, den bunten Tüchern und den Floskeln wirkt wie sein eigenes Klischee und trotzdem noch anziehend. Am 26. März wird er 70 Jahre alt und ist bestens bei Stimme.
20 Millionen Dollar für Kokain
Steven Tyler wächst als Steven Victor Talarico in New York auf. Sein Vater ist klassischer Pianist, seine Mutter Sekretärin. Er findet zu seinem charakteristischen Stil, indem er die Körpersprache berühmter Sänger im Fernsehen so lange studiert, bis er jede Nuance perfekt imitieren kann. 1969 lernt er in New Hampshire seinen späteren Bandkollegen Joe Perry kennen. Ab 1970 schreiben die beiden Rockgeschichte mit Songs wie „Toys In The Attic", „Livin’ On The Edge" oder „Janie’s Got A Gun".
Seine Fans nennen Steven Tyler „Demon of Screamin’" wegen seiner hohen Schreie und seines großen Stimmumfangs. Er ist bekannt für akrobatische Bühnenauftritte, die er gern in bunten Outfits absolviert. Sein Markenzeichen sind Schals, die an seinem Mikrofonständer hängen.
Auf zwei Dinge möchte er heute nicht mehr so gern angesprochen werden: auf seinen riesengroßen Mund und sein zerfurchtes Gesicht. Man muss schon ziemlich viele harte Drogen konsumieren, bis man so aussieht. Die Toxic Twins investierten laut Tyler sagenhafte 20 Millionen Dollar in Kokain. Wie konnte es dazu kommen?
„Haben Sie schon mal gekokst? Dann wissen Sie ja, wie es dazu kommt", blafft Tyler zurück. „Wir waren zu reich, zu jung und zu doof. Ich bin an dem Zeug hängengeblieben, ich liebte es. Ich bin damit viel zu weit gegangen. Bevor Joe und ich überhaupt jemals eine Droge angefasst haben, lebten wir an einem See in Sunapee in New Hampshire und machten bereits die größten Dummheiten. Eines Tages nahmen wir einen Fischtank, drehten ihn um und gingen damit auf dem Grund des Sees spazieren. Es war im Prinzip derselbe Scheiß, den wir später mit der Kifferei gemacht haben."
In den 90ern mit Hepatitis C angesteckt
Ein Leben nach dem Motto: Wer durch die Hölle will, muss verteufelt gut fahren. Doch der liebe Gott muss ihm einen Schutzengel auf die Erde geschickt haben. Die Vorstellung, dass der Vater der Hollywood-Diva Liv Tyler zuhause „Opa" gerufen wird, ist irgendwie absurd. „Vor vier Jahren fühlte es sich noch sehr komisch an, Grandpa genannt zu werden", erzählt er freimütig. „Aber ich habe mich dran gewöhnt. Ich fühle mich heute sogar fitter als Ende der 70er-Jahre, wo ich ziemlich durcheinander war."
1975 zieht der 27-jährige Tyler in Boston mit dem 16-jährigen Groupie Julia Holcomb zusammen. Das Mädchen wird von ihm schwanger, doch Tyler befürchtet, dass das Baby durch seinen und Holcombs Drogenkonsum mit einem Schaden auf die Welt kommen könnte. Das Paar entscheidet sich gegen das Kind, was bei Tyler eine tiefe Krise auslöst. Bei der Abtreibung soll er Kokain geschnieft und es auch seiner Freundin angeboten haben. In den 90er-Jahren steckt er sich durch das Benutzen verunreinigter Nadeln mit Hepatitis C an und erleidet während der Therapie Höllenqualen. 2006 muss er sich einer Kehlkopfoperation unterziehen. Nur wenige Wochen später geht er bereits wieder ins Studio, um mit Aerosmith ein neues Album aufzunehmen.
In seiner 2011 erschienenen Autobiografie „Does The Noise In My Head Bother You?" („Stört Sie der Lärm in meinem Kopf?") gesteht Tyler, insgesamt neun Entzüge in Kliniken durchlaufen zu haben. Heute ist er clean und kann auf eine Zeit zurückblicken, in der er nicht bloß nach einer bestimmten Droge süchtig war, sondern nach dem ganzen Drumherum.
Einmal ist Steven Tyler von der Bühne gefallen und brach sich die Schulter. „Ich habe keine Erinnerungen mehr an diese Katastrophenauftritte, denn ich
war ja bewusstlos", witzelt er. „Ich habe vielleicht ein paar mehr Drogen als andere genommen, aber heute bin ich nur noch von Musik abhängig. Sie ist die stärkste Droge von allen. Ich erinnere mich noch gut an einen Auftritt in Maine, bei dem ich umgefallen bin, weil ich zu viel getrunken hatte. Ein Typ hat mir wieder aufgeholfen, aber mein Fuß zitterte wie verrückt. Ich war deswegen so beschämt, dass ich die Show nicht zu Ende spielen konnte."
Eventuell verlängern sie die Abschiedstour
Unter dem Motto „Aero-Vederci Baby!" ist eine der erfolgreichsten amerikanische Hardrockbands aller Zeiten voriges Jahr um die Welt getourt. Möglicherweise zum letzten Mal. Hat der Sänger denn gar keine Angst, Entzugserscheinungen zu bekommen? Tyler: „Wir konnten für unsere Tour keinen besseren Titel finden. Wir sind als Band schon sehr lange zusammen und haben viele Höhen und Tiefen durchlebt. Wir waren oft kurz davor aufzuhören, haben es uns aber doch noch einmal anders überlegt. Ich weiß nicht, ob die Rolling Stones zugeben würden, dass es bei ihnen ähnlich war, aber wir sind ehrlich genug, es zu tun. Aber solange wir noch können, machen wir Musik. Wir fünf hier sind jetzt seit fast einem halben Jahrhundert zusammen. Welches Ehepaar kann das schon von sich behaupten?"
Aerosmith wollen ihre Abschiedstournee vielleicht noch ein bisschen ausweiten. Ginge es nach ihren Fans, dürften sie nie in Rente gehen. Sie befürchten, dass sie die Letzten ihrer Art sind, denn Nachwuchs auf dem Felde der Größenwahn-Rocker ist nicht in Sicht.