Tyron Zeuge ist derzeit Deutschlands einziger Boxweltmeister. Als großer Hoffnungsträger für die kriselnde Sportart taugt der zurückhaltende Athlet aber nur bedingt.
Ausgerechnet Deutschlands einziger Boxweltmeister ist in der Öffentlichkeit ein eher unbeschriebenes Blatt. Den Namen Tyron Zeuge haben die meisten Sportfans vielleicht schon gehört, aber dann hört es auch fast schon auf. Der bodenständige Berliner ist einfach kein Mann der Selbstinszenierung, von ihm gibt es keine Bilder mit teuren Sportwagen und Goldkettchen. Die Sprüche sitzen bei Zeuge auch nicht so locker wie bei anderen Boxern, das ganze Ballyhoo vor einem Kampf überlässt er lieber seinem Gegner.
Auch vor seiner WM-Titelverteidigung im Supermittelgewicht am 24. März (20 Uhr bei Sport1) in Hamburg gegen den Nigerianer Isaac Ekpo, der von Promoter-Legende Don King betreut wird, konnte Zeuge als Entertainer nicht unbedingt punkten. Das Kampfmotto „Blitz und Donner" konnte Zeuge verbal nicht befeuern. „Dieser Kampf ist sehr wichtig für mich", sagte der 25-Jährige unaufgeregt. „Ich möchte Weltmeister bleiben, vor allem aber mir selber und den Fans beweisen, dass ich mit so einem Boxer wie Ekpo besser umgehen kann."
„Ich habe mich auf seine Mätzchen eingelassen"
Beim ersten Aufeinandertreffen mit dem zehn Jahre älteren Nigerianer vor einem Jahr in Potsdam hatte Zeuge seinen WBA-Gürtel zwar erfolgreich verteidigt, sich vom unsauberen Boxstil seines Gegners aber beeinflussen lassen. „Ich habe mich auf seine unsportlichen Mätzchen eingelassen und bin extrem wütend geworden", sagt Zeuge rückblickend. „Und wenn man wütend ist, kann man nicht mehr klar denken."
Eine tiefe Wunde unter dem rechten Auge, Kratzwunden und Bissspuren auf dem Rücken – so ramponiert sah der Sieger hinterher aus. Zeuge ließ sich auf ein unsauberes Duell ein, statt seine boxerische Klasse auszuspielen. Das sei „Catchen, Ringen, Beißen" gewesen, wetterte damals Zeuges Promoter Kalle Sauerland. Er habe sich zeitweise sogar an die legendäre Ringschlacht von Mike Tyson gegen Evander Holyfield erinnert: „Damals wusste Tyson auch nicht mehr weiter und biss Holyfield ins Ohr."
Es ist nicht davon auszugehen, dass der erfahrene, aber technisch limitierte Ekpo inzwischen seinen Stil umgestellt hat. „Isaac Ekpo ist ein sehr ekliger Boxer", sagt Zeuge. „Ich gehe davon aus, dass es wieder ein solcher Kampf wird." Aber genau das will sein Trainer Jürgen Brähmer eigentlich verhindern. Sein Schützling dürfe sich nicht auf das Niveau des Gegners herunterziehen lassen, „er muss sauber boxen, dann wird er ihn klar beherrschen". Sollte Zeuge das gelingen, bleibt er auch nach der Boxnacht von Hamburg Deutschlands einziger Weltmeister der vier großen Weltverbände WBA, WBC, WBO und IBF, versichert Brähmer: „Mit boxerischen Mitteln kann Ekpo Tyron nicht schlagen."
Nachdem Zeuge den ursprünglich für den 2. Dezember 2017 geplanten Rückkampf gegen den Nigerianer wegen einer Viruserkrankung absagen musste, ging man im Lager des Deutschen nun auf Nummer sicher. Um der Grippewelle möglichst aus dem Weg zu gehen, trainierte man statt in Schwerin im Bundesleistungszentrum Kienbaum, da man hier weitestgehend abgeschottet von der Außenwelt arbeiten kann. Brähmer hatte weniger Glück, der Supermittelgewichtler musste seinen Halbfinal-Kampf im Februar gegen den Briten Callum Smith in der mit 50 Millionen US-Dollar dotierten Muhammad-Ali-Trophy wegen eines Infekts absagen.
Von seiner Erkrankung hat sich Brähmer mittlerweile erholt, seine ganze Konzentration gilt jetzt Schützling Zeuge. Und den will der Ex-Weltmeister taktisch und körperlich ähnlich gut einstellen wie beim herausragenden Sieg im Juni gegen Paul Smith. Den starken Briten hatte Zeuge im bislang besten Kampf seiner Karriere nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen. Der zweitjüngste deutsche Weltmeister der Geschichte boxte schnell und variabel, er war wendig auf den Beinen und hochkonzentriert.
Der zweitjüngste deutsche Weltmeister
Das klare Urteil aller drei Punktrichter (jeweils 119:108) sprach Bände. Selbst Ulli Wegner, der seinen Ex-Schützling schon öfters hart kritisiert hatte, war voll des Lobes. „Tyron war ganz große Klasse", sagte die Trainer-Ikone. „Ich habe lange keinen deutschen Boxer gesehen, der so großartig geboxt hat." Auch Ex-Champion Arthur Abraham, der auf einen WM-Kampf gegen Zeuge hofft, schwärmte am Ring: „Das hat Tyron toll gemacht, das muss ich zugeben. Das hätte ich ihm nicht zugetraut."
Zeuges Triumph über Smith war nicht nur für den Linksausleger selbst, sondern „für den gesamten deutschen Boxsport in Deutschland von enormer Bedeutung", meinte Manager Sauerland. Ihm war die Erleichterung besonders deutlich anzusehen, schließlich hängt das hiesige Boxen mächtig in den Seilen, die Geschäfte laufen schlecht. „Wir arbeiten hart, um diesen Sport über Wasser zu halten. Wir haben gesehen, dass man dabei auf Tyron bauen kann", sagt Sauerland. Eine WM-Niederlage von Zeuge wäre für die Branche „eine Katastrophe", Sauerland nennt seinen Schützling gerne und oft den „letzten Mohikaner".
Auch Smith-Manager Eddie Hearn, der in Schwergewichts-Weltmeister Antony Joshua den zurzeit größten Boxstar unter Vertrag hat, ist beeindruckt von Zeuges Qualitäten. „Deutschland hat wieder eine echte Perle", sagt er. „Jugend, Schlagkraft, Talent – alles spricht für ihn." Und damit ist für den Briten auch klar: „Das deutsche Boxen lebt."
Da sind sich andere Experten längst nicht so sicher. Die Einschaltquoten gehen seit Jahren in den Keller, auch die Arenen sind längst nicht mehr so gut besucht wie einst. Es fehlen Erfolge der deutschen Boxer, es fehlen Typen. Boxen war mal ein Sport für die Massen, in den goldenen 90er-Jahren hatten Axel Schulz, Henry Maske, Sven Ottke oder Graciano Rocchigiani regelmäßig sogar 15 bis 18 Millionen Fans vor die Bildschirme gelockt. Vorbei. Wird es je zu einer Renaissance kommen? So schnell jedenfalls nicht.
Dem deutschen Boxen fehlen die ganz großen Talente, vor allem im so publikumswirksamen Schwergewicht tut sich seit Jahren nichts. Der letzte deutsche Weltmeister in der Königsklasse war kein Geringerer als Max Schmeling – und das ist mittlerweile 85 Jahre her. „Wir in Deutschland jiepern danach", sagt Promoter Ulf Steinforth vom SES-Boxstall.
Wäre Zeuge ein Schwergewichtler, sein Bekanntheitsgrad wäre ungleich größer. Als Supermittelgewichtler muss er jedoch um Aufmerksamkeit buhlen, trotz seines WM-Gürtels. Das aber fällt ihm sichtlich schwer. Zeuge fährt einen japanischen Kleinwagen und er geht gerne mit seinem Hund in Neukölln spazieren. Glamour-Faktor? Gleich null. „Ich bin ein bisschen einfach gestrickt", sagt er über sich selbst. In die A-Prominenz will Zeuge deswegen auch gar nicht aufsteigen: „Ich möchte gar kein Star sein. Es ist nicht unbedingt mein Ding, in der Öffentlichkeit zu stehen."
Man könnte den Fakt, dass er Deutschlands einziger Boxweltmeister ist, aggressiver vermarkten, aber das will Zeuge gar nicht: „Das interessiert mich nicht so." Für einen Fernsehsender ließ sich Zeuge doch einmal zu Marketingzwecken zu einem Gag-Dreh überreden: Ein finster dreinblickender Richter in Robe und mit Perücke, gespielt von Trainer Jürgen Brähmer, fragt Zeuge: „Sind Sie der Tatzeuge, sind Sie Kronzeuge, sind Sie Unfallzeuge oder Trauzeuge?" Der Boxer antwortet: „Nein, nein, nein. Ich bin Tyron Zeuge, und ich schwöre, am 5. November werde ich Weltmeister!"
„Früher war ich ziemlich faul"
Zeuge hielt Wort, im Kampf damals gegen den Italiener Giovanni de Carolis schnappte er sich den WBA-Gürtel und kürte sich zum zweitjüngsten deutschen Weltmeister nach Rocchigiani. Ein Erfolgsgeheimnis ist die gute Chemie zwischen Trainer Brähmer und Athlet Zeuge. Da haben sich zwei gefunden, die wunderbar miteinander harmonieren. „Mit Jürgen haben wir Spaß und Ablenkung im Training. Und wenn es drauf ankommt, sind wir ernst", sagt Zeuge. Brähmer ist selbst noch aktiv, wenn auch auf der Zielgeraden seiner Karriere. Er weiß genau wie seine Schützlinge ticken. Und wann sie einen sprichwörtlichen Tritt in den Hintern benötigen. Auch Zeuge neigt mitunter zur Selbstzufriedenheit, einst galt er sogar als unprofessionell. „Früher war ich ziemlich faul", gibt er selbst zu.
Als sein Vater 2012 tödlich verunglückte, riss ihn das aus der Bahn. Zeuge hatte Gewichtsprobleme, war im Training nicht mehr so fokussiert. „Mir hat einfach die Lust gefehlt", erinnert sich Zeuge. „Ich denke, so ein Tief hat jeder einmal. Ich brauchte einfach etwas Neues." Das „Neue" war der Trainerwechsel 2016 zu Brähmer, der in seinem Leben auch schon so manchen Rückschlag erleiden musste. Der Schweriner führte Zeuge aus dem Leistungstief in die Weltspitze. „Ich habe ihm gleich gesagt: Ich habe schon zwei Kinder und brauche kein drittes", verrät Brähmer.
Mittlerweile hat Zeuge verstanden, dass mehr als nur Talent dazugehört, um weltspitze zu sein. Sein Schützling sei nun in der Lage, „meine Vorgaben über zwölf Runden umzusetzen", sagt Brähmer nicht ohne Stolz. Manchmal habe er zwar noch „leichte Konzentrationsschwächen", aber auch die werden immer weniger. Ein Showman wird Zeuge aber wohl nie werden.