Krebs ist nicht gleich Krebs. Deshalb arbeiten Forscher an neuen, individuelleren Behandlungsmethoden für Patienten. In Zukunft wollen sie nicht nur die Tumore besser spezifizieren, sondern auch gezielter therapieren können.
An kaum einer Erkrankung wird so viel geforscht wie an Krebs. Und das aus gutem Grund: Zwischen sieben und acht Millionen Tote fordert die Krankheit pro Jahr. In Deutschland zählen Tumorerkrankungen zu den zweithäufigsten Todesursachen. 28 Millionen Menschen weltweit leben mit der Diagnose.
Getrieben von dem Wunsch nach einem Durchbruch oder der Option auf Heilung entdecken Wissenschaftler immer wieder Neues. Bereits seit einigen Jahren berichten Forscher wie Christof von Kalle vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg von einer Art „Aufbruchsstimmung". Immer wieder ist dabei die Rede von individualisierter und personalisierter Medizin. Doch was genau bedeutet das für den Patienten? Und wie und wann kann diese Art der Therapie eingesetzt werden?
Krebserkrankungen sind so verschieden wie die Menschen, die davon betroffen sind. Patienten werden aber bislang meist nach einheitlichen Richtlinien behandelt. Eine individuelle und personalisierte Krebstherapie erfordert nicht nur eine Wahl der Therapie je nach Art und Stadium des Krebses. Vielmehr sollen mithilfe von modernen Diagnoseverfahren individuelle Merkmale des Krebses, sogenannte Biomarker, erkannt werden. Die Therapie soll daran angepasst werden, unter anderem mit zielsicheren, molekularen Medikamenten. Personalisierte Therapie bedeutet auch: Anpassung an Alter, Körpergewicht, Leber- und Nierenfunktion, Begleiterkrankungen und soziale Situation des Patienten. Hoch wirksam soll sie sein und minimal belastend – soweit das Versprechen.
Den Tumor interpretieren
Internationale Studien bestätigen den Erfolg solcher Therapiekonzepte. Bei Patienten mit Lymphdrüsenkrebs, Myelom, Brust-, Prostata- oder Darmkrebs etwa konnte in den letzten Jahren das therapeutische Ansprechen und das Überleben von Tumorpatienten signifikant gesteigert werden.
Der erste Schritt ist die Diagnostik. Professor Dr. Andreas Deimling wurde zuletzt mit dem Krebspreis in der Kategorie „Translationale Forschung" ausgezeichnet. Der Mediziner hat gemeinsam mit Kollegen einen Antikörper zur zweifelsfreien Diagnose bestimmter Unterformen der Gliome hergestellt. Weltweit wird der patentierte Antikörper mittlerweile routinemäßig in der Hirntumordiagnostik eingesetzt. Auch für das Protein BRAF, das bei den meisten Melanomen, Schilddrüsen- und Darmtumoren verändert ist, entwickelte der Neuropathologe einen hochspezifischen Antikörper. Zurzeit arbeitet er an einem Diagnosesystem, das sich auf chemische Veränderungen des Erbgutes in den Krebszellen, die DNS-Methylierung, stützt.
Professor Dr. Olaf Witt ist Kinder-Onkologe an der Universität Heidelberg. Er hat sich auf Hirntumore spezialisiert. Witt behandelt unter anderem die achtjährige Antonia. Im Kopf des kleinen Mädchens wucherte ein bösartiger Tumor. Viermal wurde sie operiert, viermal kehrte der Krebs zurück. Auch Chemo- und Strahlentherapie zeigten keine Erfolge. Gemeinsam mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum und der Heidelberger Universitätsklinik sind Witt und seine Kollegen in der Lage, binnen drei Wochen den genetischen Code eines Tumors zu entschlüsseln. Früher dauerte das pro Patient mindestens ein Jahr, erklärt der Mediziner. Ein Team aus 20 Mitarbeitern, darunter Ärzte, Molekular-Biologen und Bioinformatiker, greifen unter anderem auf eine Gensequenzierungs-Technologie zurück. 500 erkrankte Kinder wurden so bereits analysiert. Bei der Hälfte der kleinen Patienten konnte der Code geknackt und genetische Veränderungen gefunden werden. Aber nur in höchstens fünf Prozent der Fälle ist es ihnen bisher gelungen, ein passendes Medikament zu finden, das die vermehrte Zellteilung verhindern kann. Antonia hatte Glück, für sie gab es etwas Passendes. Seit einem guten halben Jahr nimmt sie ein neues, noch nicht zugelassenes Medikament. Regelmäßig muss sie zur Kontrolle, denn sie ist die erste Patientin, die so behandelt wird. Um das Mittel auf den Markt zu bringen, muss es vorher an einer Vielzahl von Patienten getestet werden – ein Prozedere, das Jahre dauern kann.
Immer wieder stehen Ärzte vor der Herausforderung, das passende Medikament für ihre Patienten finden zu müssen. „Sie haben zwar heute hochwirksame Medikamente zur Auswahl, welches davon aber im konkreten Fall am besten passt, ist oft nur schwer vorherzusagen", schildert Bioinformatikerin Lara Schneider von der Universität des Saarlandes das Dilemma. Eine Suche, die für den Patienten sehr belastend sein kann. Außerdem sei sie meist mit Nebenwirkungen und der Gefahr, dass sich Resistenzen bilden, verbunden. Arzneistoffe, die breit wirken, führten zudem nicht selten zu Kollateralschäden an unbeteiligten Zellen.
Um künftig besser vorhersagen zu können, welches Mittel dem Patienten die besten Heilungschancen verspricht, hat Schneider gemeinsam mit Kollegen ein Assistenzsystem entwickelt. Mit dessen Hilfe sollen die genetischen und molekularen Eigenschaften des Tumors für die Mediziner sichtbar gemacht werden. Der sogenannte Drug Target Inspector zeigt an, wie der Tumor beschaffen ist, also etwa welche Mutationen vorliegen, welche Gene betroffen sind, welche Proteine aktiv oder welche Signalwege verändert sind. „Es handelt sich nicht um eine Black Box, die ein Ergebnis auswirft, aber sonst alles im Dunkeln lässt. Vielmehr ist es ein Werkzeug, mit dem der Tumor besser interpretiert werden kann und welches das genetische und molekulare Zusammenspiel sichtbar machen soll", sagt Schneider, die dafür mit dem „Future X Healthcare Award" ausgezeichnet wurde.
Das System wertet mit algorithmischen Methoden, die die Bioinformatiker entwickelt haben, viele verschiedene Daten des Patienten aus und setzt diese in Verbindung mit Erkenntnissen aus Molekularbiologie und Pharmakologie. Für den Arzt werden die Charakteristiken des Tumors und dementsprechende mögliche Behandlungen danach anschaulich aufbereitet.
Das Assistenzsystem soll nun in klinischen Tests erprobt werden. Unter anderem daran beteiligt ist der Kinder-Onkologe Professor Nobert Graf von der Universitätsklinik des Saarlandes: „Wir werden jetzt erst mal validieren, ob wir über dieses Assistenzsystem gute Ergebnisse bekommen – ob wir die Forschung ans Krankenbett bringen können. Das heißt, wir werden zunächst keine Therapieänderungen vornehmen. Erst wenn wir zeigen können, dass es funktioniert, münzen wir alles auf die Patienten um und könnten dann natürlich gezielter behandeln."
Wann Tools wie etwa das Assistenzsystem für alle Patienten auf den Markt kommen könnten, ist noch schwer absehbar. „Wenn man das validieren kann, könnte das recht schnell gehen", erklärt Graf. „Im Moment ist es aber noch ein Forschungsprojekt. Generell kann man Modelle für das Ansprechen von Medikamenten bei Tumoren mit der Wettervorhersage vergleichen. Wir sind auf dem Gebiet noch ganz am Anfang. Vergleichen Sie mal die Wettervorhersage von vor 30 Jahren mit der von heute, die ist natürlich deutlich besser."
Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Grundsätzlich sieht der Mediziner große Fortschritte in der Onkologie bei Kindern und Erwachsenen. Das hänge damit zusammen, dass man die Erkrankung besser verstehe und bessere Medikamente einsetzen könne. Für die Zukunft müsse sich aber die interdisziplinäre Zusammenarbeit deutlich verbessern. „Der Arzt heute ist angewiesen auf die Molekularbiologen, auf die Bioinformatiker und auf Modellierer, die versuchen, das Krankheitsbild mit allen anfallenden Daten im Computer umzusetzen und darauf basierend eine Voraussage zu machen, wie der Patient am besten zu behandeln ist", sagt Graf. Außerdem fordern verschiedene Experten auch den Aufbau stabiler Kooperationen von großen, leistungsstarken Zentren. Das sei auch wichtig, weil eine zunehmende biologische Subgruppenbildung von Tumoren dazu führe, dass selbst in großen Zentren nicht mehr genügend große Patientengruppen für gezielte Studien zusammenkämen. Zudem müssten auf allen Ebenen die besten Forschungszentren mit den besten Kliniken kooperieren, um die Durchführung langfristiger, komplexer und oft auch kostenintensiver klinischer Studien zu neuen Therapien zu ermöglichen.
Auch die Mediziner selbst seien gefragt, müssten etwa ihre Lektionen in Molekularbiologie lernen. Kinder-Onkologe Graf glaubt, dass vor allem verstärktes bioinformatisches Wissen und das Verstehen von Modellierungen vonnöten wäre.
Einen anderen Stolperstein sieht er im Datenschutz. „Wir arbeiten mit sehr persönlichen Daten, und dabei darf es nicht zu einem Datenmissbrauch kommen", betont Graf. „Dafür wird es im Frühjahr dieses Jahres ein neues EU-Gesetz geben. Dabei muss man natürlich aufpassen, dass die Gesetzgebung die Forschung nicht beeinträchtigt."
Wie schnell und gut die Forschung gelingen kann, daran hat auch die Pharmaindustrie ihren Anteil. Sie müsse Abschied nehmen von der Idee des Verkaufsschlagers. Denn wo ein neues Krebsmedikament nur einem von zehn Patienten hilft, weil es nur bei ihm wie der Schlüssel zum molekularbiologischen Schloss seines Tumors passt, werden die Märkte notgedrungen kleiner, sagt Michael Hallek, Direktor des Zentrums für Integrierte Onkologie an der Universität Köln.
Kinder-Onkologe Norbert Graf hat darauf einen etwas anderen Blickwinkel: „Was passiert und passieren wird: Man wird bei verschiedenen Krankheitsbildern die gleichen molekularen Mechanismen und Ursachen kennen. Plötzlich findet man dann Medikamente, die nicht für eine Krankheit, sondern für Subtypen verschiedener Krankheiten wirksam sind."
Sorgen, dass die Pharmaindustrie möglicherweise einen geringeren Anreiz verspürt, in solche Medikamente zu investieren, macht er sich nicht. „Die Pharmaindustrie investiert eine ganze Menge und macht da auch große Fortschritte. Ich glaube aber, dass diese interdisziplinären Ansätze, wie wir sie verfolgen, auch an die Universitäten gehören, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Dann kann man mit der Industrie diskutieren, wie man das am sinnvollsten für den Patienten umsetzt."