In Südfrankreich wird dieses Jahr mit dem Zusammenbau des Kernfusion-Testreaktors Iter begonnen. Dank eines künstlichen Sterns könnte dort der Menschheitstraum von sauberer, sicherer, preisgünstiger und nahezu unbegrenzter Energiegewinnung verwirklicht werden.
Jede Nacht können sie tausendfach am Himmel bewundert werden. Die kosmischen Kernfusionsöfen leuchten still vor sich hin und schaffen mit Bravour, was auf Erden bislang noch nicht gelungen ist: Energie gleichsam aus dem Vollen zu schöpfen. 2018 könnte nun das Jahr werden, in dem sich die Menschheit aufmacht, eine neue, unerschöpfliche Energiequelle zu entdecken. Indem sie die ersten wesentlichen Schritte hin zu einem künstlichen, kontrollierten Sonnenfeuer auf Erden einschlägt. Wobei Letzteres mit Rekordwerten von bis zu 200 Millionen Grad Celsius die gerade mal bei 15 Millionen Grad Celsius liegenden Temperaturen im Herzen der Sonne locker übertreffen soll.
Das kühnste Energieprojekt bisheriger Zeiten, an dem mit der EU, den USA, China, Japan, Korea, Russland und Indien sieben Partner beteiligt sind, ist unter dem Namen Iter bekannt und steht für ein internationales Forschungsprogramm samt Testreaktor („International Thermonuclear Experimental Reactor") mit dem Fernziel einer Stromerzeugung aus Fusionsenergie. Angestoßen wurde es bereits 1985 nach Absprache zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow. Richtig in die Gänge kam es aber erst nach der rechtsverbindlichen Gründung der Iter-Organisation im Oktober 2007. Wobei durchweg mit völlig unrealistischen Kostenvoranschlägen gearbeitet wurde, statt den ursprünglich angedachten fünf Milliarden Euro soll die Reaktoranlage nun mindestens 20 Milliarden Euro kosten. Für ein Projekt dieser Größenordnung und Ambition durchaus angemessen, schließlich dürfte es sich um das größte länderübergreifende Wissenschaftsprojekt seit der Internationalen Raumstation ISS handeln, die bis heute bereits rund 150 Milliarden Dollar verschlungen hat. Wie bei wichtigen internationalen Forschungsprojekten inzwischen üblich, wird auch bei Iter ein Großteil der Partnerbeiträge nicht in Geldform, sondern als Sachleistung beglichen. Sprich, die Länder liefern fertige Baustelle, technische Komponenten, Forschungs- und Ingenieurleistungen. Hintergrund: Jeder möchte direkten Zugang auf das Know-how haben.
20 Milliarden Euro teures Projekt
Als Standort für Iter wurde das südfranzösische Forschungszentrum Cadarache gewählt, das 30 Kilometer nordöstlich von Aix-en-Provence unweit des Dörfchens Saint-Paul-lès-Durance liegt. Auf einer Fläche von 42 Hektar wurde seit Baubeginn 2007 ungefähr die Hälfte aller Vorarbeiten abgeschlossen. 2018 soll nun bereits mit dem Zusammenbau des Herzstücks begonnen werden, dem Fusionsreaktor, der wie ein Riesenpuzzle aus bis zu einer Million Einzelteilen besteht. Von seinem Äußeren her erinnert der auf einer Höhe von 30 Metern und einem Durchmesser von 40 Metern angelegte Reaktor an ein überdimensionales reifenartiges Gefäß. In seinem Inneren soll ab dem Jahr 2025 mit Hilfe der fast unbegrenzt verfügbaren und billigen Wasserstoff-Varianten Deuterium, das sich beispielsweise im Meerwasser findet, und dem radioaktiven Tritium, das im Reaktor selbst aus Lithium produziert werden kann, eine Kernfusion stattfinden. So wird Energie freigesetzt und nur relativ geringe radioaktive Rückstände entstehen.
Da beide Wasserstoff-Varianten positiv geladen sind, wird das Gasgemisch mit Hilfe elektromagnetischer Wellen auf eine Temperatur von mindestens 150 Millionen Grad Celsius erhitzt werden müssen. So können die gegenseitige Abstoßung überwunden und die Verschmelzung der beiden Komponenten zu Heliumkernen in Gang gesetzt werden. Da kein bekanntes Material das ultra-heiße Plasma aushalten könnte, muss dieses im Reaktor in einem 19 Meter breiten und 5.200 Tonnen schweren Vakuumgefäß mit Hilfe eines gigantischen Magnetsystems in der Schwebe gehalten werden. Ein Supergau wie bei Atomkraftwerken ist bei Iter absolut ausgeschlossen, da die Fusionsreaktion bei einer Plasma-Abkühlung sofort zum Erliegen kommen würde. Um jegliche Gefahr bezüglich Tritium zu bannen, wird das innere Vakuum durch ein zweites, kesselförmiges Vakuumsgefäß mit 29 Metern Höhe und Durchmesser namens Kryostat luftdicht eingeschlossen, das gleichzeitig als Kühlkammer genutzt wird. Ob Iters Fusionsleistung tatsächlich um ein Vielfaches höher sein kann als die zum Aufheizen des Plasmas benötigte Energiezufuhr, bleibt abzuwarten. Den Vorgaben zufolge soll er jedenfalls der erste Fusionsreaktor sein, der mehr Energie freisetzen kann, als er verbraucht. Ob es darüber hinaus jemals gelingen kann, ein durch Kernfusion sich selbst erhaltendes Plasma zu erzeugen, ist eine derzeit kaum zu beantwortete Frage.
Selbst wenn alle heute noch gar nicht absehbaren Probleme im Zusammenhang mit Iter gelöst werden könnten und der Testreaktor in den Jahren nach 2025 perfekt seinen Dienst versehen sollte, so ist an eine kommerzielle Nutzung der Kernfusionstechnologie noch lange nicht zu denken. Denn Iter ist noch nicht als Prototyp eines echten Kraftwerks angelegt. Denn um wirtschaftlich nutzbare Energie in ausreichender Menge liefern zu können, müsste es noch mal erheblich größer sein. Immerhin hat man sich schon Gedanken über ein auf den Namen „Demo" getauftes Folgeprojekt gemacht, das allerdings frühestens um das Jahr 2050 herum anlaufen könnte. Mit der Inbetriebnahme erster kommerzieller Reaktoren rechnen Experten daher keinesfalls vor 2070. Wobei es sich aus Gründen der Effizienz aus heutiger Sicht um Riesenanlagen handeln müsste, von denen es dann aber pro Kontinent nur vergleichsweise wenige zu geben brauchte.
Kernfusion immer noch umstritten
Es wäre auf jeden Fall fast eine Ironie der Geschichte, wenn sich die Kernkraft als Energiequelle in Gestalt der Fusion zurückmelden und als solche die Stelle der ausgemusterten Kernspaltung mit ihrer gefährlich-unbeherrschbaren Technologie und strittig-teuren Endlagerung einnehmen könnte. Laut einer Studie zum europäischen Energiemarkt ab 2050 könnte die Fusion bei deutlich verschärften Kohlendioxid-Reduktionszielen im Jahr 2100 zwischen 20 und 30 Prozent des europäischen Strombedarfs decken.
Das Projekt Iter und die Kernfusion sind natürlich keineswegs unumstritten. Die Kritiker bemängeln vor allem die lange Entwicklungszeit. Der Klimawandel müsse jetzt möglichst schnell mit Hilfe erneuerbarer Energien gestoppt werden. Man könne damit nicht warten, bis die Fusions-Technologie in ferner Zukunft möglicherweise nutzbringend einsatzfähig sein könnte. Man solle das Geld besser in Windräder oder Solaranlagen sowie in intelligente Netze investieren. Allerdings müssen sich auch die Kritiker, die den Energieverbrauch nur noch aus Erneuerbarem decken möchten, die Frage gefallen lassen, ob es wirklich wünschenswert ist, künftig fast sämtliche freie Flächen mit Wind- und Solaranlagen zupflastern zu lassen. Fusions-Befürworter verweisen darauf, dass der energiepolitische Systemumbau noch lange nicht geschafft sein wird. Dass Iter, die Kernfusion und umweltfreundliche Großkraftwerke in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts eine Art von Versicherung sein könnten: im Idealfall überflüssig, im Notfall, bei einem etwaigen Scheitern des Komplettumbaus Richtung erneuerbarer Energien, aber ganz entscheidend.