Sie sieht aus wie ein cooler Sonnenschutz. Aber sie kann viel mehr. Mit einer sprechenden Brille könnten Sehbehinderte wieder „sehen", sich allein durch unbekanntes Terrain bewegen. In eineinhalb Jahren soll das High-Tech-Wunder auf den Markt kommen. Vielleicht sogar auf Rezept.
Seine Erfindung könnte die Welt für Blinde und Sehbehinderte revolutionieren!" Die Augen von Gustavo Madico leuchten, wenn er von seiner neuesten Entwicklung erzählt: einer Hightech-Brille, ausgestattet mit Mikrochips, einer Kamera und Lautsprechern. Was sie künftig leisten soll, fasst der 34-jährige Ingenieur für angewandte künstliche Intelligenz in einem Satz zusammen: „Unsere Brille soll diese Menschen künftig völlig unabhängig machen, sie sicher durch Städte und Landschaften navigieren – und das auf der ganzen Welt." Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. Madico: „Bis zur endgültigen Marktreife brauchen wir noch gut 18 Monate."
Ortstermin in einem modernen Bürogebäude in Berlin Mitte: In mehreren Großraumbüros wuseln hier Hunderte junger Menschen durcheinander. Da wird telefoniert, es werden E-Mails geschrieben, Pläne und Bilder an die Wände gehängt. Zentraler Anlaufpunkt für die Berliner Start-up-Szene, die hier arbeitet: Die riesige Kaffeeküche. Auch Gustavo Madico sitzt am Tresen, öffnet seinen Laptop. Aus der Tasche holt er eine Brille, vergleicht den Prototyp seiner „Brille für Blinde" mit den Entwürfen im Rechner. Dann lächelt der gebürtige Spanier: „Wir sind absolut auf dem richtigen Weg."
Auf den ersten Blick wirkt die Erfindung wie eine hippe Sonnenbrille: Die Gläser sind getönt, das Gestell ist dunkelgrau. Erst bei näherem Hinsehen erkennt man, dass sie mehr können muss. „Vorne befindet sich eine Kamera, überall in den Gläsern und Bügeln sind empfindliche Sensoren", erklärt Madico. Außerdem sind kleine Lautsprecher integriert, auf dem rechten Bügel leuchtet das Logo von Madicos Firma: „Ai Serve". Der streng geheime Prototyp ist das Ergebnis von gut einem Jahr Arbeit.
Damals traf sich Madico in einer Kneipe mit seinem sehbehinderten Freund Dario. Die beiden wollten etwas essen und trinken, „einfach ein wenig Spaß haben". Aber Dario hätte die neue Kneipe am Berliner Alexanderplatz niemals alleine gefunden. Eine Freundin musste ihn begleiten. Madico: „Da kam uns beiden die Idee, dass wir etwas entwickeln müssen, was das Leben von Menschen mit einer Sehbehinderung unabhängiger macht. Herausgekommen ist diese Hightech-Brille und das gemeinsame Unternehmen Ai Serve."
Beim Aufbau von Ai Serve konnte Gustavo Madico auf seine jahrelange Erfahrung als Firmengründer, Geschäftsführer und Entwickler zurückgreifen. So leitete er in China das von Versandhändler Alibaba gegründete Unternehmen Peel Technologies. Das Start-up entwickelte eine App, mit der sich Fernsehgeräte übers Smartphone bedienen lassen. Ein Erfolg auf ganzer Linie. Über 150 Millionen Menschen weltweit installierten sich das Programm, mehr als 100 Millionen US-Dollar Beteiligungskapital flossen ins Unternehmen. Madico arbeitete auch für Microsoft R&D Beijing und entwickelte Web-Produkte für VW, BMW und Mini.
Zurück in die Kneipe am Alexanderplatz vor gut einem Jahr: Rein technisch hatten die beiden Freunde erste Ideen für die Brille. Aber, so Madico: „Dario und mir war schnell klar, wir brauchen Investoren. So eine Entwicklung kostet schließlich eine Menge Geld. Und wir brauchen Menschen, die an unsere Idee glauben."
Erste Unterstützer fanden die beiden schon wenige Wochen später. Bei einem Treffen mit dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband wurde schnell klar: „Bislang gibt es auf dem Markt nichts Vergleichbares: Ein Gerät, das die Menschen sicher und zuverlässig navigiert, ist nicht verfügbar."
Eine Brille, die um Hilfe rufen kann
Und so machte sich Madico Anfang 2017 an die Arbeit. Gemeinsam mit einem Team aus Optikern, Designern und IT-Fachleuten ging es an die ersten Prototypen. Gleichzeitig sammelte Ai Serve rund 100.000 Euro Unterstützerkapital ein. Reichen wird das nicht: „Bis zur Marktreife der Brille sind wir natürlich weiter auf der Suche nach Unterstützern. Wir wollen ja ein Massenprodukt entwickeln." Schließlich ist der Markt dafür riesig, alleine in Europa gibt es etwa 50 Millionen Blinde oder Sehbehinderte, weltweit mehr als 1,7 Milliarden.
Bei den Tests kristallisierte sich rasch heraus, wohin die Reise gehen soll. Aus der Brille soll ein zuverlässiger Begleiter für die Menschen mit Sehbehinderung werden. „Ein Begleiter, auf den man sich in allen Lebenslagen verlassen kann". Das könnte das Leben der Betroffenen wirklich verändern. „Mit der Brille wird es erstmals möglich sein, dass Blinde neue Plätze entdecken können." Möglich wird das dank modernster Navigationssysteme. „Der Betroffene kann dann einfach sagen: Bring mich zu einem schönen Park in der Nähe – und los geht’s!"
Dabei übernimmt die Entwicklung nicht nur die klassische Navigation, sondern warnt den Nutzer auch vor möglichen Gefahren. „Dazu zählen etwa eine neue Baustelle oder ein nahendes Auto." Binnen Millisekunden werden alle wichtigen Informationen verarbeitet und an den Nutzer weitergegeben – durch ein Geräusch, einen Impuls oder eine Sprachmittteilung.
Und wie sieht das dann konkret aus? Der Sehbehinderte beschließt zu Hause, wo es hingehen soll. Per Internet erhält er zunächst alle wichtigen Informationen – aufgearbeitet als Sprachmitteilung. Dann macht er sich auf den Weg. Die Brille ist die ganze Zeit über online, kennt die Route und verarbeitet praktisch nebenher alle anderen wichtigen Informationen. Selbst wenn es einen Notfall gibt, kann die Brille selbstständig Hilfe rufen. Auch für die optimale Stromversorgung ist gesorgt, mit modernen Akkus mit einer Laufzeit von rund acht Stunden.
In der Brille wird während des Ausflugs eine unglaubliche Vielzahl von Informationen gleichzeitig verarbeitet. Damit sie der Datenflut überhaupt Herr wird, kooperiert Ai Serve mit der Deutschen Telekom – die arbeitet mit sogenannten H-Computern. Dahinter verbirgt sich High-Performance Computing. Verschiedene Minicomputer verbinden sich virtuell zu einem Superrechner. „Für uns heißt das, dass die Brille lernen kann", freut sich Madico. „Sie wird künftig Landschaften beschreiben." Erste Tests der Superbrille hätten überzeugt: „Sie sind so vielversprechend, dass wir schon heute mit dem Gesundheitsministerium und verschiedenen Krankenkassen gesprochen haben. Alle haben uns ihre Unterstützung signalisiert."
Madicos Pläne sind ambitioniert, und er spricht schon von Arbeitsplätzen, die er ins Ausland verlegen will. Allerdings ist er überzeugt, dass es den Blindenstock weiter geben wird – als Erkennungszeichen. Bis es die Brille vielleicht sogar auf Rezept gibt, ist es freilich noch ein langer Weg.