Wochenlang tobte der Kampf um das nordsyrische Afrin. Nach eigenen Angaben hat die türkische Armee die Kleinstadt unweit der Grenze eingenommen. Seit Jahren organisiert die Saarländerin Adoula Dado Hilfe für Syrien und den Nordirak. Ein Teil ihrer Familie ist in Afrin eingeschlossen.
Frau Dado, was genau spielt sich da derzeit in Afrin ab – was berichten Ihre jesidischen Verwandten vom Einmarsch der türkischen Armee?
Vor allem kam es zu Plünderungen, Gewaltübergriffen auf angebliche Parteimitglieder, Minderheiten und die Zerstörung von Denkmählern. Die türkische Armee hat die Freie Syrische Armee nicht im Griff. Es gibt auch innerhalb der beiden Truppen Übergriffe, da die türkische Armee offenbar immer wieder versucht, die Freie Syrische Armee zur Ordnung zu rufen, aber diese sich nicht daran hält. Es befinden sich auch sehr viele Minen in der Stadt. Es wird von Toten berichtet: Zum Beispiel hat ein Hausbesitzer versucht, in seinem Garten Zwiebeln zu ziehen, er wurde von einer Mine getötet, die im Beet vergraben war. Deswegen ist es dringend erforderlich, internationale Beobachter und Spezialisten nach Afrin zu schicken, um erst mal überhaupt die Minen zu räumen.
Angeblich soll es nach der Einnahme von Afrin auch durch die türkische Armee zu Plünderungen gekommen sein …
Das kann ich so nicht bestätigen. Die türkische Armee ist zwar mit der Freien Syrischen Armee in Afrin einmarschiert. die extremen Plünderungen sollen aber vorwiegend durch die Freie Syrische Armee begangen worden sein. Die Beute soll an der syrisch-türkischen Grenze zwischengelagert worden sein. Nach einigen Tagen haben die Plünderungen nachgelassen, aber die Menschen werden von den Soldaten der Freien Syrischen Armee immer noch beraubt. Die Frauen müssen Schmuck abgeben, und den Männern wird das Geld abgenommen.
Was bedeutet es, dass die Stadt schon seit Wochen im Visier der verschiedenen kämpfenden Armeen und paramilitärischen Verbänden ist?
Afrin ist faktisch schon seit Wochen durch die türkische Armee von der Außenwelt abgeschlossen, diese hat die Stadt komplett umzingelt. Man bekommt damit auch seit Wochen keine Hilfsgüter mehr nach Afrin rein. Mitte März wurde die Stadt dann tagelang permanent bombardiert. Da gab es bis zu 50 tote Zivilisten pro Tag. Aufgrund des Beschusses und wegen des Vormarschs der Bodentruppen sind die Menschen von den umliegenden Dörfern in die Stadt geflohen. Es gibt zwar eine Straße, auf der man theoretisch Afrin verlassen kann, doch die liegt ebenfalls ständig unter Beschuss der Freien Syrischen Armee und ist gesperrt. Die Menschen haben also keine Chance, sich unversehrt in Sicherheit zu bringen, und dienen so als menschliche Schutzschilde.
Das klingt nach einer humanitären Katastrophe ... Was macht ganz praktisch die größten Probleme?
Das größte Problem ist das Wasser, denn auch die lebenswichtige Wasserzufuhr durch einen Stausee ist unterbrochen. Selbstverständlich gibt es auch nicht genug zu essen. Und auch in den Krankenhäusern ist die Lage dramatisch, weil es nichts mehr gibt. Die Verwundeten können nicht vernünftig versorgt werden.
Sie sind ja selbst Jesidin. Sind die Jesiden besonders betroffen?
Gerade die Jesiden in der Stadt haben natürlich Angst vor einem erneuten Genozid durch den IS wie damals im Sinjar-Gebirge. Viele Frauen haben sich Gift besorgt, um sich und ihre Töchter so vor möglichen Vergewaltigungen und Versklavung zu schützen.
Wie können Sie denn überhaupt noch Kontakt nach Afrin halten?
Das ist nicht so einfach. Normal zu telefonieren geht fast gar nicht mehr, stattdessen schicken wir uns gegenseitig WhatsApp-Sprachnachrichten. Die laufen über Internet, da gibt es in der Stadt bestimmte Ecken, in denen man noch ab und zu Empfang hat. Meine Leute laden sich die Sprachnachrichten herunter und schicken mir ihre aktuellen Berichte, anders kann man derzeit keinen Kontakt halten. Man darf ja auch nicht vergessen, die Kommunikationsanlagen wurden als erstes zerstört, damit eben kein Kontakt nach draußen besteht.
In Berlin haben Sie kurz den gerade neu gewählten Außenminister Heiko Maas getroffen und ihm die Lage in Afrin geschildert. Wie hat Maas reagiert?
Er hat sehr verständnisvoll reagiert. Natürlich ist man im Auswärtigen Amt bemüht, schnell Klarheit zu bekommen, was sich in Afrin wirklich abspielt. Gleichzeitig ist die Bundesrepublik immer im engen Kontakt auch mit der Türkei, aber diese Gespräche finden bestimmt hinter verschlossenen Türen statt. Das Auswärtige Amt und Heiko Maas haben sich für uns Zeit genommen, und das Gespräch war für mich sehr glaubwürdig. Sie haben uns zugesichert, man versuche alles nur Mögliche, damit vor allem die Zivilbevölkerung nicht mehr zwischen die Fronten gerät. Aber realistisch betrachtet, kann Deutschland da allein auch nicht so viel ausrichten – da müssen auch die anderen Länder mit eingreifen. Es ist wichtig, dass alle Länder jetzt zum Schutz der Bevölkerung Druck auf die Türkei ausüben. Auch Bundeskanzlerin Merkel hat ja in ihrer Regierungserklärung das Vorgehen der türkischen Armee gegen die Bevölkerung und die Jesiden kritisiert.
Wenn Sie nun hören, dass Deutschland in den vergangenen Monaten wieder vermehrt die türkische Armee mit Ausrüstungsgegenständen unterstützt hat, was geht Ihnen da im Kopf herum?
Man verspürt eine gewisse Wut: Wie kann es sein, dass Deutschland weiterhin Waffen in diese Krisenregion liefert? Aber es ist ja nicht nur Deutschland allein. Dennoch: Als Menschenrechtlerin und Vorsitzende einer Hilfsorganisation kenne ich das leider über die Jahre schon zur Genüge – dass alle wissen, dort und dort geschieht Unrecht, da geht das Militär gegen die Bevölkerung vor, und trotzdem werden Waffen in so eine Region geliefert. Gerade im Fall von Afrin ist das jetzt natürlich für mich besonders frustrierend, weil ja auch ein Teil meiner Familie betroffen ist. Aber das kann natürlich nicht der Maßstab sein.