Das hätte Charlotte von Mahlsdorf wohl gefreut: Einen Tag vor ihrem 90. Geburtstag wurde eine Straße nach ihr benannt – ganz nah ihres Museums, das eine der umfassendsten Gründerzeitsammlungen des Landes zeigt.
Ursprünglich ein Gutshaus – 1815 erbaut – dann spätklassizistische Landvilla, die an die Stadt Lichtenberg verkauft wurde. Das heutige Gründerzeitmuseum in Berlin-Mahlsdorf hat eine ziemlich bewegte Geschichte. Mal wurde das Gebäude als Säuglingsheim genutzt, dann als Verwaltung oder Kindergarten; es gab verschiedene An- und Umbauten. 1959 sollte es abgerissen werden. Aber da kam Charlotte von Mahlsdorf. Geboren am 18. März 1928 als Lothar Berfelde – aus dem „Lottchen" und später „Charlotte von Mahlsdorf" wurde, sammelte sie seit frühester Jugend Möbel und Alltagsgegenstände aus der Gründerzeit. Bereits mit 18 Jahren hatte sie fünf vollständige Zimmereinrichtungen zusammengetragen. Doch wohin damit? Das halb verfallene Haus am Hultschiner Damm schien die Lösung.
Gründerzeit-Wohlstand trifft Sammelleidenschaft
Charlotte, die sich oft als Frau kleidete, bezog zwei Räume und renovierte das Gebäude in mühevoller Kleinarbeit Stück für Stück, Zimmer für Zimmer. Immer mehr Exponate kamen hinzu. 1972 wurde das Gutshaus unter Denkmalschutz gestellt. Zwei Jahre später sollte das Museum mitsamt der Exponate verstaatlicht werden. Wieder zwei Jahre später wurde diese Entscheidung zurückgenommen. Nach der Wende gab es vermehrt Übergriffe von Neonazis auf Haus und Besucher. Die Museumsgründerin beschloss schließlich, Deutschland zu verlassen. Sie zog nach Schweden, wo sie ein neues Jahrhundertwende-Museum eröffnete.
Das Gründerzeitmuseum in Mahlsdorf wurde hingegen vom Land Berlin gekauft und 1997 von einem Förderverein wiedereröffnet. So war es möglich, Fördermittel zu beantragen, das Gebäude und die Sammlung aufwendig zu restaurieren. Im Kellerbereich konnten zusätzliche Ausstellungsräume geschaffen werden – insgesamt sind es jetzt 17. Vergangenes Jahr wurde mit dem Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf ein Vertrag zur Sicherung der Gründerzeitsammlung des Museums unterzeichnet. Heute sind die Räume wieder so eingerichtet, wie Charlotte von Mahlsdorf sie ausgestattet hatte.
Auf Führungen lautet eine der ersten Fragen meist: „Woher bloß hat die Museumsgründerin all diese Dinge herbekommen?" Charlotte von Mahlsdorf muss – so scheint es – ständig auf der Suche nach neuen Schätzen unterwegs gewesen sein. Bei Wohnungsauflösungen, mitunter auf dem Schrottplatz. Einiges bekam sie geschenkt – das repräsentative Herrenzimmer und das neogotische Speisezimmer aus der Zeit um 1900 gehörten einst dem Berliner Kaufmann Carl Wienecke. Das schlichtere Wohn- und Arbeitszimmer kam von Charlottes Großonkel Josef Brauner, das Schlafzimmer aus der Villa eines Leipziger Architektenpaares. Dort finden sich neben dem wuchtigen Doppelbett auch zahlreiche Alltagsgegenstände, erotische Wäsche von 1890 wie eine knielange, spitzenverzierte Damenunterhose, eine Sammlung von Regenschirmen, ein Kinderwagen und – unter dem Bett – Nachttöpfe. „Die Kinder fragen immer, ob das große Tassen sind", erzählt Museumschefin Monika Schulz-Pusch schmunzelnd.
Auch im Damensalon stehen mächtige Möbel und viel Plüsch. Die Gründerzeit, die ab 1871 mit einem wirtschaftlichen Aufschwung einherging, brachte vor allem dem Bürgertum Wohlstand. Und den wollte man in einer opulenten Wohnungsausstattung zeigen. Gleichzeitig wurden Möbel und Einrichtungsgegenstände zunehmend maschinell und in größerer Auflage gefertigt – sie waren erheblich erschwinglicher als zuvor.
Schulz-Pusch lenkt im Jagdzimmer mit dem reich verzierten gusseisernen Ofen die Aufmerksamkeit auf die Bordüren an den Wänden. „Da der ursprüngliche Zustand nicht mehr erhalten war, haben wir mit einer Restauratorin die Farben so ausgewählt, dass sie zu den Möbeln passen. Die Hirsch-Schablonen für die Bordüren hat sie eigenhändig ausgeschnitten und mit dem Pinsel ausgemalt." Die Museumschefin ist sichtlich stolz: „Einige Besucher kennen das Haus noch von früher. Die sind ganz begeistert, wenn sie sehen, wie schön es geworden ist."
Charlotte von Mahlsdorf arbeitete zeitweise im Märkischen Museum in der Abteilung für mechanische Musikinstrumente und war so fasziniert, dass sie diese ebenfalls zu sammeln begann. Im Museum gibt es daher Grammophone und Lochplatten, die bei Führungen natürlich aufgelegt werden. „Charlotte hat immer gesagt, ein Museum zum Anfassen ist ein Museum mit Herz", erinnert sich Schulz-Pusch. Und so kann im Herrenzimmer ein Pianola-Vorsatz bestaunt werden. Vor das Klavier geschoben klimpert die Maschine fröhlich drauflos.
Das Kontrastprogramm findet sich im schlicht gehaltenen Schlafzimmer von Charlotte. Es wirkt so, als ob die Hausherrin nur eben kurz hinausgegangen wäre. Am Kleiderständer hängt noch ihr Mantel. Noch einfacher lebte nur das Dienstpersonal in den Räumen im Keller. „Wir haben ein typisches Dienstmädchenzimmer eingerichtet, um zu zeigen, wie die ärmeren Menschen gelebt haben", sagt Monika Schulz-Pusch. Beim Verlassen des Museums ein letzter Stopp im Flur: Dort steht der Besucher vor einer Bildergalerie mit alten Aufnahmen von Charlotte und dem Haus. Daneben hängen Theaterplakate. Der US-Autor Doug Wright hatte ein Theaterstück über Charlotte von Mahlsdorf geschrieben. „I am my own wife" lautete der Titel in Anlehnung an Charlottes Biografie: „Ich bin meine eigene Frau." Das Ein-Mann-Stück hatte 2003 Premiere, Jefferson Mays spielte darin rund 40 Rollen. Wright erhielt 2004 für sein Theaterstück über Charlotte von Mahlsdorf den Pulitzer-Preis. Seine Protagonistin war zwei Jahre zuvor gestorben – während eines Besuchs in Berlin. Sie wurde in ihrer Heimat, im Ortsteil Mahlsdorf, beigesetzt.