Die Gewaltspirale kann nur durch Signale von beiden Seiten gestoppt werden
Die gewaltsamen Proteste im Gazastreifen bringen einen verschütteten Konflikt der Weltpolitik zurück ins Bewusstsein: den jahrzehntelangen Streit zwischen Israel und den Palästinensern. Angetrieben wird der aktuelle Widerstand durch die radikalislamische Hamas. Sie will das Recht aller geflohenen und vertriebenen Palästinenser samt deren Nachkommen erzwingen, nach Israel zurückzukehren. Die Proteste sollen sechs Wochen dauern. Als Höhepunkt ist der 15. Mai geplant, an dem Israel den 70. Jahrestag der Staatsgründung feiert. Für die Palästinenser ist dies der „Nakba“-Tag, der „Tag der Katastrophe“. Er erinnert an den ersten Nahost-Krieg 1948, in dem rund 700.000 Palästinenser flohen oder vertrieben wurden.
Die Chancen, dass die Hamas ihrem Ziel auch nur einen Millimeter näherkommt, stehen gegen null. Die Organisation verbeißt sich in eine Illusion, die zwangsläufig in eine Gewaltspirale mündet. Solange die ideologischen Hardliner das Existenzrecht Israels nicht anerkennen und immer wieder Raketen auf den Nachbarn schießen, wird Jerusalem den Gazastreifen isolieren. Die Verbohrtheit und der Mangel an Realpolitik dienen als Rechtfertigung für weitere Abschottung.
Hinzu kommt, dass die aktuelle Dynamik der internationalen Politik nicht günstig für die Palästinenser ist. US-Präsident Donald Trump hat sich unmissverständlich auf die Seite der israelischen Regierung gestellt. Mit der Entscheidung, den Zankapfel Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen, hat der Chef des Weißen Hauses eine einschneidende Kurskorrektur vorgenommen. Auch der Abschied von der in Washington lange Zeit verfochtenen Zweistaatenlösung passt hierzu. Trump blickt bereits auf die Zwischenwahlen zum US-Kongress im November. Er will mit seiner Pro-Israel-Linie die Millionen Evangelikalen zufriedenstellen, die einen wichtigen Teil seiner republikanischen Parteibasis ausmachen. Amerika hat damit seine Maklerrolle im Nahost-Friedensprozess aufgegeben, die unter Präsidenten wie Barack Obama oder Bill Clinton noch außer Frage stand.
Die arabischen Staaten, die bis vor wenigen Jahren noch laute Lippenbekenntnisse zugunsten der Palästinenser abgelegt hatten, verhalten sich in diesen Tagen auffallend still. Sunnitische Länder wie Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate stehen in einem wichtigen Punkt an der Seite Israels: Sie fürchten einen Machtzuwachs des schiitischen Irans. Es gilt der im Nahen Osten weit verbreitete Satz: „Der Feind meines Feindes ist mein Freund.“ Selbst Ägypten, das sich traditionell als Schlüsselspieler bei der Lösung des arabisch-israelischen Konflikts begriffen hatte, ist das Hemd näher als der Rock. Präsident Abdel Fattah al-Sisi hat die Grenzen zum Gazastreifen abgeriegelt. Er will die Verbindungen zwischen der Hamas und den mit ihr befreundeten Muslimbrüdern im eigenen Land kappen.
Weiteres Hindernis für die Palästinenser sind interne Streitigkeiten: Die Hamas und die in den Autonomiegebieten herrschende Fatah können sich nicht einigen. Eine gemeinsame Regierung scheitert an Rivalitäten, Eifersüchteleien und einer wuchernden Korruption.
Dies alles ist jedoch kein Grund, die Palästinenser sich selbst zu überlassen. Vor allem im Gazastreifen grassiert die Armut, die Zustände sind vielerorts prekär. Eine ganze Generation von Jugendlichen hat keine beruflichen Perspektiven und versinkt in Frust, Lethargie oder Wut. Hier sind nicht nur die internationale Gemeinschaft, die EU oder Amerika gefragt. Auch Israel sollte ein Signal der Versöhnung und des guten Willens aussenden: Die Öffnung der Grenzen für Lebensmittellieferungen könnte dies sein. Es wäre ein erster Schritt, der zumindest einen Prozess zur Auslotung eines politischen Modus Vivendi einleiten könnte.
Premierminister Benjamin Netanjahu sucht allzu oft sein Heil in einer Politik der Härte nach außen. Häufig gab es Anlass hierzu. Doch gelegentlich zahlt es sich aus, Brücken zu Gegnern zu bauen und um Zustimmung auf der anderen Seite zu werben. Wenn sich Netanjahu permanent gegen Gesten der Annäherung sperrt, machen sich eines Tages andere zu Anwälten der palästinensischen Sache: die Türkei oder der Iran, an dem der Verbündete Russland hängt. Im Interesse Israels wäre das nicht.