„Berlin, Stadt der Freiheit“: Gerade ausgehwütige Touristen nehmen diesen Slogan gern allzu wörtlich. Wer nahe angesagter Locations wohnt, hat das Nachsehen. Doch was tun, um das berühmte Nachtleben nicht abzuwürgen? Im Simon-Dach-Kiez drohen nun gezielte Lokal-Sperrstunden.
Für manche ist die Gegend der Ballermann von Berlin: Die Simon-Dach-Straße ist die Ausgehmeile zwischen RAW-Gelände und Boxhagener Straße, nur fünf Minuten entfernt vom S-Bahnhof Warschauer Straße. Hier rattern nicht nur Rollkofferhorden durch, sondern auch viele Feierwütige aus der ganzen Welt. Aber es wohnen ja auch noch ganz normale Leute hier – diese Anwohner kommen nicht zur Ruhe, alarmieren das Ordnungsamt, beschweren sich über nächtliche Kneipenbesucher.
Bisher gab es laut Ordnungsamt für verschiedene Gaststätten unterschiedliche Regelungen. Da ist natürlich die Frage, ob der Außenausschank für alle Lokale in der Straße nicht gleichermaßen ab 23 Uhr eingestellt werden soll. Danach könnte in der Simon-Dach-Straße nur noch drinnen konsumiert werden. Traurige Vorstellung für einen lauen Sommerabend, an dem man nach dem Essen hinüber zu einer Bar spaziert und, gerade dort angekommen, nach dem ersten Drink schon hineingehen soll. Aber Ordnungsstadtrat Andy Hehmke (SPD) meint: „So kann der nächtliche Lärm, unter dem der Kiez leidet, nachhaltig eingeschränkt werden. Wir werden die Umsetzung begleiten, evaluieren und Maßnahmen für 2019, wie beispielsweise eine Ausweitung des betroffenen Bereichs, ableiten.“
Die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) von Friedrichshain-Kreuzberg hatte sich mehrfach, so auch Mitte Februar, mit dem Thema beschäftigt. Mit dabei war Michael Näckel, der in der Nähe sein Restaurant „Papaya am Boxhagener Platz“ betreibt und für den Gastronomieverband Dehoga ehrenamtlicher Bezirksbeauftragter ist. Seiner Meinung nach leidet der Kiez nicht: In der gesamten Sommersaison 2017 seien im Boxhagener Kiez und in der Simon-Dach-Straße nur 39 Beschwerden wegen nächtlicher Ruhestörung eingegangen. Zudem bezogen die sich hauptsächlich auf acht von den insgesamt 155 erfassten Gastronomiebetrieben.
Schluss um 23 Uhr ins Auge gefasst
Das Amt begründete seine ins Auge gefasste 23-Uhr-Regel unter anderem damit, dass Polizei und Ordnungsamt nach 23 Uhr nicht mehr unterwegs seien, um den Lärmpegel zu kontrollieren. Außerdem ist der Ermessensspielraum groß: 200 Euro Bußgeld würden viele Wirte nicht schrecken. Michael Näckel weiß allerdings von einem Gastronomen in der Simon-Dach-Straße, der mehrfach Bußgelder erhielt, einmal über 700 und ein weiteres Mal über 1.000 Euro: „Beide zugrundeliegenden Tatvorwürfe fanden nach Mitternacht statt. Also waren die Amtsmitarbeiter auch nachts unterwegs.“
Auch in anderen Kiezen tobt der Streit um nächtlichen Lärm. Rund um die Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg gab es im vergangenen Sommer einen Zettelkrieg, begleitet von einem Hin und Her in den sozialen Medien. Begonnen hatte das Tohuwabohu als Vorwurf der Alteingesessenen gegen die zugezogenen „Schwaben“, weil die immer nach mehr Ordnung und Ruhe riefen. Die Angesprochenen schimpften per Aushang zurück gegen „das in Berlin tatsächlich herrschende Chaos“ und fühlten sich angesichts dessen, was sie für den Kiez geleistet hätten, undankbar behandelt.
Bezirkswechsel: In Tiergarten-Süd rund um die Kurfürstenstraße wurde immer wieder der Ruf nach einem Sperrbezirk laut, allerdings aus anderen Gründen: Dort, an der Bezirksgrenze von Mitte zu Tempelhof-Schöneberg, liegt einer der bekanntesten Straßenstriche Berlins. 2013 schlug der damalige Schöneberger Ordnungsstadtrat Oliver Schworck (SPD) vor, die Straßenprostitution zwischen 4 Uhr morgens und 20 Uhr abends zu verbieten. Berliner CDU-Politiker wie Frank Henkel unterstützten die Idee, Hauptargument war der Kinder- und Jugendschutz. Als der grüne Bürgermeister Stephan von Dassel vier Jahre später, im Sommer 2017, einen Sperrbezirk für den Straßenstrich in der Kurfürstenstraße vorschlug, schlug ihm heftige Kritik vieler Anwohner entgegen. Von Dassel tat dies, weil eine andere Anwohnerinitiative Unterschriften für die Einrichtung eines Sperrbezirks gesammelt hatte – für sie war die Lage für die Nachbarschaft unzumutbar geworden.
Ob Sperrbezirk oder Sperrstunde: Bislang gibt es solche Zeit-Regelungen in Berlin nicht, eine Sperrstunde in der Simon-Dach-Straße wäre also ein Novum für die Stadt. Schon vor der Abgeordnetenhauswahl im Herbst 2016 hätten die damaligen Friedrichshainer Stadträte eine Allgemeinverfügung für den Außenausschank geplant, erinnert sich Michael Näckel. Dazu kam es damals nicht. Ihre Nachfolger nach der Wahl wollten dem Kiez zunächst einmal eine Chance geben und beauftragten eine eigene Prüfung der Lage. Dies geschah im Rahmen des Projekts „fair.kiez – Stadtverträglicher Tourismus in Friedrichshain-Kreuzberg“. Die dabei federführende Geschäftsführerin der Coopolis GmbH, Stefanie Raab, stellte die Ergebnisse der Untersuchung in der BVV im Februar vor: Der Lärm in der Simon-Dach-Straße könne keinen einzelnen Betrieben zugeordnet werden. Einer einheitlichen Regelung für alle stehe sie ablehnend gegenüber – sie setze auf freiwillige Kooperation.
Eine Lösung mit Maß und Mitte finden
Woher kommt also der angeblich so sehr beklagte Lärm? Über die lang geöffneten Läden, die Spätis, wurde in diesem Zusammenhang jedenfalls nicht gesprochen. Sie dürfen zwar keinen Alkohol zum Verzehr in ihren Räumlichkeiten und auf dem Bürgersteig davor verkaufen. Aber wer kann schon kontrollieren, wo die Nachtschwärmer ihren frisch erworbenen „Nachschub“ konsumieren? Kneipen und Bars seien also weniger die Ursache für den Lärm, sagt Michael Näckel, sondern mehr die Betrunkenen, die lautstark durch den Kiez ziehen und sich in den Spätis immer mal wieder neu versorgen.
Eine Allgemeinverfügung mit der Sperrstunde ab 23 Uhr hätte gravierende Auswirkungen für den ganzen Kiez, vermutet Näckel: Die Gäste würden nämlich zunächst in die Lokale in den Seitenstraßen abwandern. Am nahe gelegenen Boxhagener Platz würde die Verfügung ebenso wenig gelten wie ab der Ecke zur Niederbarnimstraße, sodass es viele Nachtschwärmer dann in diese Gegend ziehen würde. „Das wäre der erste große Sargnagel für die Simon-Dach-Straße“, sagt der Gastronom.
Auch Burkhard Kieker, der Geschäftsführer des offiziellen Berliner Reiseportals „Visit Berlin“, will verhindern, dass das Nachtleben abgewürgt wird. „Damit der Berlin-Tourismus weiterhin stadtverträglich und zugleich erfolgreich bleibt, ist es wichtig, ihn im Einklang mit den Anwohnerinteressen zu gestalten“, sagt er, und fügt mit Blick auf die Friedrichshainer Ausgehmeile hinzu: „Es geht darum, Maß und Mitte zu finden und zu verhindern, dass sich die Besucherströme vom Simon-Dach-Kiez einfach in die angrenzenden Wohngebiete verlagern.“
Erst mal scheint zumindest in Sachen Simon-Dach-Kiez eine Zwischenlösung gefunden: Ende März, kurz vor dem Beginn der Draußen-Saison, entschied die BVV mit den Stimmen von Grünen, Linken und FDP, keine Sperrstunde einzurichten. Allerdings sollen jene Wirte, deren Gäste rücksichtslos lärmen und Klagen provozieren, mit einer gezielten Lokal-Sperrstunde und Bußgeldern belegt werden. Bleibt abzuwarten, wie diese Lösung wirkt.