Parlaments-Novizin Anne Genetet ist seit Emmanuel Macrons Wahlsieg Abgeordnete der Pariser Nationalversammlung. Je länger sie ihn regieren sehe, desto begeisterter sei sie von ihm, sagt die Ärztin. Doch fehle es der „République en Marche“ an Struktur.
Vor einem guten dreiviertel Jahr hat Anne Genetet erstmals das Pariser Palais Bourbon betreten. Die zierliche Mittfünfzigerin mit dem flotten Kurzhaarschnitt kam nicht als Touristin zur Besichtigung der Nationalversammlung. Sondern sie trat als frischgebackene Abgeordnete der jungen Partei „La République en marche“ von Emmanuel Macron an. Bei den Parlamentswahlen im Juni letzten Jahres erhielten 577 Volksvertreter beiderlei Geschlechts Mandate, darunter 313 für „LRM“, entstanden aus der im April 2016 vom heutigen Staatspräsidenten Emmanuel Macron gegründeten Bewegung „En Marche“. Für drei von vier Abgeordneten handelt es sich um ihr erstes Mandat in der „Assemblée Nationale“; für das Gros der Nachwuchs-Parlamentarier sogar um den ersten politischen Posten. Der Wandel gilt als „historisch“.
„Nicht mehr das alte Reaktionsmuster“
Auch Anne Genetet hat vor zwei Jahren noch nicht einmal im Traum an eine politische Karriere gedacht. Seit 2005 lebt die ausgebildete Ärztin mit ihrer Familie in Singapur. Sie arbeitete bei humanitären Nichtregierungs-Organisationen. Paris und die Landespolitik waren weit weg. „Als Macron seine Bewegung gründete und im Präsidentschaftswahlkampf immer öfter von sich reden machte, habe ich erstmals aufgehorcht“, erinnert sich die Auslandsfranzösin.
Und als der politische Shootingstar Anfang 2017 gezielt Frauen ermunterte, sich zu engagieren, eroberte er das Herz von Anne Genetet im Sturm. Denn Macron versprach eine neue Art Politik zu machen, „weder links noch rechts“, pragmatisch, sachbezogen. „Seit ich das erste Mal wählen durfte“, meint sie, „habe ich nur Parteien vorgefunden, die sich bei jeder Aussage auf den politischen Gegner bezogen, um ihn niederzumachen.“ Der Kandidat Macron aber kündigte an, mit solchen Allüren zu brechen. Einen anderen Umgangston in der Politik hatte Genetet insgeheim schon lange erhofft: „Jetzt, auf einen Schlag, sind wir nicht mehr im Reaktionsmuster der systematischen Opposition!“
Seit Januar 2017 hat Genetets Leben ungemein an Tempo zugelegt. Spontan ließ sie sich damals als ‚En-Marche‘-Kandidatin in ihrer Wahlheimat aufstellen und klapperte den Wahlkreis ab. Er ist der für die Auslandsfranzosen räumlich größte und umfasst Osteuropa, Asien und Ozeanien. Innerhalb eines Monats bereiste sie zehn Länder, 15 Städte, von Peking über Sidney, Tokyo, Delhi bis Manila. Und fegte ihren konservativen Gegenspieler, politisch ein alter Hase, aus dem Rennen. Das Palais Bourbon betrat die frischgebackene Abgeordnete sozusagen auf Zehenspitzen: „Man hat gewissermaßen den Eindruck, in die Geschichte einzugehen.“
Dass der junge Staatspräsident angetreten war, der Geschichte Frankreichs eine neue Wende zu geben, ist eine Botschaft, die Genetet verbreitet so oft es geht. Umso eifriger, seitdem sie auf der politischen Bühne eine gewisse Sattelfestigkeit erreicht hat. Die Parlaments-Novizin veröffentlicht inzwischen regelmäßig einen politischen Wochenrückblick in Form eines fünfminütigen Videos in sehr persönlichem Ton.
Ihr Elan scheint fast grenzenlos: „Je länger ich Macron regieren sehe, desto mehr begeistert er mich“, resümiert die Politikerin. Seit letztem Sommer hat der Staatschef große Reformprojekte auf den Weg gebracht: zum Arbeitsrecht, zum Hochschulzugang, im Steuersektor, in der Bildungspolitik. In atemberaubendem Rhythmus geht es weiter mit dem Umbau der staatlichen Eisenbahn SNCF und auch bei den Renten. „Ein mörderisches Tempo“, sagt mancher von Genetets Kollegen hinter vorgehaltener Hand.
China, Indien, Singapur, Australien, London. Ob als Macrons Geleit auf Staatsreise oder in eigener politischer Mission – Genetet ist sehr viel unterwegs, wirkt gerädert. „Die Zeit vergeht so rasend schnell, dass ich auf Anhieb gar nicht mehr weiß, welchen Tag wir haben“, sagt sie. In ihrem Büro klingelt das Telefon häufig, die beiden Handys piepen wegen eingehender Nachrichten noch viel öfter. Die Arbeit reiße nicht ab, sagt die Jungpolitikerin. „Mir kommt es vor, als sei ich erst gestern in die Nationalversammlung gewählt worden. Und gleichzeitig habe ich das Gefühl, schon so viel getan zu haben.“
„Macrons Hampelmänner“
Nicht alle Parlaments-Novizen teilen Genetets Standvermögen und ihren Optimismus. Einige der Neulinge, heißt es in den Medien, seien kurz davor, das Handtuch zu werfen. Vor allem jene, die zuvor als Manager in der Privatwirtschaft tätig waren, tun sich mit dem parlamentarischen Alltag schwer. Ein bisschen bröckelt wohl auch der Lack ab. Zu Beginn der Legislaturperiode hat „La République en Marche“ mehrmals seine Parlamentsdebütanten zu Seminaren einbestellt, um ihnen das A und O des Alltags in der Nationalversammlung beizubringen. Und sie auf Parteikurs einzuschwören. Laurent Wauquiez, neuer Chef der konservativen Les Républicains, bezeichnete die „LRM“-Abgeordneten kürzlich sehr provokant als „Macrons Hampelmänner“. Eine Kritik, die Genetet wütend macht. Aber zwischen den Zeilen wünscht sie sich bei ihresgleichen mehr Mut zur eigenen Meinung.
Auf das Staatsoberhaupt lässt die Neu-Abgeordnete jedoch nichts kommen: „Wenn ich mit Bürgern rede, meinen diese nun immer häufiger, Macron habe die Dinge im Land in Bewegung gebracht.“ Doch Genetet weiß auch, dass ihre politische Karriere schlagartig enden kann: Weil es ihrer Partei an Struktur fehlt. „Bei Les Républicains ist es genau umgekehrt. Die konservative Partei hat eine Struktur, dafür fehlt es an Überzeugungen.“ Gewachsene Strukturen aber, sagt die Parlamentarierin, könnten in einem Wahlkampf die ausschlaggebende Stärke sein: „Wenn es uns nicht gelingt, landesweit Parteigruppen aufzubauen, können wir ebenso schnell wieder verschwinden wie die Bewegung vor zwei Jahren entstanden ist.“