Politische Bewegungen entstanden in Frankreich in den vergangenen Jahrzehnten aus vielen Richtungen. Das zeigen Präsident Macrons „La République en Marche“ und ein kleines Dorf im Vallée de la Drôme bei Lyon.
Ein konservativer oder sozialistischer Bürgermeister, gelegentlich auch mal liberal oder parteilos, dazu den passenden Gemeinderat, ausgekungelt in den Hinterstübchen der Rathäuser, ohne großes Murren und Zutun der Bürger, abgenickt und demokratisch legitimiert per Wahlgang alle sechs Jahre.
Alltag in den rund 36.000 Städten und Gemeinden unserer französischen Nachbarn. Das Problem aber bleibt: Immer weniger Bürger gehen wählen, die Mitgliederzahlen der Parteien schrumpfen, die etablierte Parteienlandschaft ist zersprengt mit einer pulverisierten Sozialdemokratie und einem zerstrittenen bürgerlichen Lager. Aus Bewegungen werden im Schnelldurchgang Parteien wie es „La République en Marche“ von Emmanuel Macron eindrucksvoll gezeigt hat.
Vom Protest zum Gemeinderat
Was auf nationaler Ebene funktioniert, läuft im kommunalen Bereich schon länger. In dem kleinen gallischen Dorf Saillans im Vallée de la Drôme rund 150 Kilometer südöstlich von Lyon gelegen mischt eine bunt gewürfelte Truppe aus Linken, Ökopaxen, PolitÂomis und Arrivierten die Lokalpolitik seit den letzten Kommunalwahlen 2014 kräftig auf. Mächtig beflügelt durch die erfolgreiche Verhinderung einer Supermarktansiedlung vor den Toren der kleinen Gemeinde hat sich aus einer Protestinitiative der Bürger eine politische Bewegung entwickelt und auf Anhieb mit absoluter Mehrheit den Einzug in den Gemeinderat geschafft. Sie stellen 12 der 15 Abgeordneten inklusive Bürgermeister. Die Wahlbeteiligung lag bei dieser Kommunalwahl übrigens bei fast 80 Prozent, ein Traumwert, den man lange nicht gesehen hat.
Doch ein „weiter so“ sollte es in der Kommunalpolitik in dieser neuen Konstellation nicht mehr geben. Unter dem Motto „alle Macht geht vom Volke aus“ und „Demokratie heißt Beteiligung aller Bürger“ haben die Hippies der neuen Generation, wie sie der abgewählte Altbürgermeister François Pégon von den Zentristen verächtlich nennt, die Entscheidungsgremien in der Gemeinde kräftig umgekrempelt. Partizipative Demokratie heißt das im Fachjargon und erlaubt die Einbeziehung aller Bürger bei kommunalen Entscheidungen. Sieben Kompetenzfelder wurden definiert von Finanzen, Infrastruktur, urbane Entwicklung über Schule, Bildung und Soziales bis hin zu Energie, Umwelt und Mobilität. Jeweils ein Gemeinderatsmitglied und ein fachkompetenter Bürger sind hauptverantwortliche Ansprechpartner, über sogenannte Arbeitsgruppen (gap – groupe action projet) können alle Bürger gleich welchen Alters ihre Anliegen einbringen und bearbeiten. Ein für alle Bürger offenes Lenkungsgremium der Gemeinderatsmitglieder hat die klassischen Gemeinderatssitzungen abgelöst, debattiert und entscheidet über die in den Arbeitsgruppen erzielten Ergebnisse.
„Transparenz und Information sind oberste Gebote unseres Tuns“, betont Fernand Karagiannis. Eine eigens eingerichtete Webseite, extra angebrachte Infokästen in den Ortsteilen und ein gemeindlicher Newsletter zeigen den jeweiligen Stand der Dinge an, informieren über alles Wichtige in der Gemeinde, fordern die Bürger zum Mitmachen auf. Alle Protokolle seien außerdem öffentlich einsehbar. „Anfangs waren wir noch wenige“, erinnert sich die pensionierte Dorfschullehrerin Annie Morin, „aber wir haben schon Versammlungen mit 200 Bürgern gehabt.“ Über 70 Sitzungen hätten bereits stattgefunden, wenn auch der anfängliche Elan ein wenig nachgelassen habe. Aber ein Viertel der rund 1.250 Bürger würde sich an der Kommunalpolitik aktiv beteiligen. Natürlich gebe es auch eine Opposition gegen die Neuen, erzählt Joachim Hirschler, gewähltes Gemeinderatsmitglied und zuständig für Energie- und Umweltfragen. Den Deutschen hat es vor ein paar Jahren der Liebe wegen nach Saillans gezogen. Im zentralen Café des Sports am Platz treffen sich Befürworter und Gegner gleichermaßen. Für die einen sind es verklärte Spinner, die das öffentliche Leben durcheinanderbringen, für die anderen die Heilsbringer einer neuen demokratischen Idee, die dem müde gewordenen Politsystem anscheinend Beine macht.
Zieht man nach drei Jahren vorsichtig Bilanz, kann Saillans durchaus mit Neuerungen punkten. So wurde die Straßenbeleuchtung in einigen Vierteln zu bestimmten Zeiten abgeschaltet, um Geld zu sparen, Pkw-Stellplätze in der Ortsmitte durch Fahrradplätze ersetzt, was zu einem Protestschrei sondergleichen geführt hat. Ein neuer Dorfpolizist wurde eingestellt, der lokale Einzelhandel gestärkt mit neuen Lebensmittelgeschäften und einem Buchladen, ein für die Größe der Kommune anspruchsvolles Kulturprogramm auf die Beine gestellt, ein Forum für Bürgerbelange eingerichtet oder der Anschluss der Gemeinde ans Glasfasernetz umgesetzt. „Saillans gehört in Frankreich zu den Wachstumsgemeinden“, erzählt Joachim Hirschler stolz.
Lehrstück in Demokratie
Bei den Europatagen im vergangenen Jahr kamen viele Interessenten aus ganz Frankreich nach Saillans, um sich über die partizipative Demokratie zu informieren. Beispiele für eine erfolgreiche Beteiligung der Bürger am kommunalen Geschehen gibt es in Frankreich mittlerweile viele, so etwa im elsässischen Kingersheim, im bretonischen Trémargat oder im nordfranzösischen Loos-en-Gohelle. Gemein ist allen diesen Kommunen, dass sie klein und überschaubar sind, wo fast jeder jeden kennt und wo es oftmals Probleme gab, die alle Bevölkerungsschichten tangierten wie Landflucht oder ungelöste Umweltfragen oder einfach nur Unzufriedenheit mit der Lokalpolitik.
Ob in Deutschland die partizipative Demokratie ein geeignetes Mittel wäre, gegen die zunehmende Politikverdrossenheit anzugehen, bleibt dahingestellt. Die politischen Systeme insbesondere auf kommunaler Ebene sind in Frankreich und Deutschland höchst unterschiedlich organisiert und lassen einen Vergleich nur schwer zu. Beispiele wie in Saillans, wo Gemeinderat und Bürgermeisteramt nur noch faktisch eine tragende Rolle haben, sind in Deutschland kaum vorstellbar. Dass aber Protestbewegungen durchaus etwas bewirken können, zeigen auch Beispiele zahlreicher Bürgerbewegungen in ganz Deutschland. Der Unterschied bisher: Es hat sich aus diesen Bewegungen nie eine neue politische Kraft oder eine neue Form der Demokratie entwickelt so wie an einigen Stellen in Frankreich. Die partizipative Demokratie ist trotzdem auf dem Vormarsch und hat selbst im Lissabon-Vertrag der Europäischen Union Eingang gefunden. Sie ist als Recht der zivilen Gesellschaft explizit im Vertrag verankert.
Rechtlich verankert ja, massentauglich wohl kaum, die etablierten Parteien und die Zentralregierung in Paris schauen trotzdem argwöhnisch auf die neue demokratische Entwicklung in einigen Dörfern Frankreichs. Und so sagt Emmanual Cappellin aus Saillans, „dass so viele Menschen sich bei uns kommunalpolitisch betätigen, ist doch ein schlagkräftiges Indiz dafür, dass vieles im alten System nicht rund läuft“. Wie wahr, doch die echte Bewährungsprobe steht der partizipativen Demokratie noch bevor. 2020 wählen die Bürger in Frankreich ihre Kommunalparlamente neu. Dann wird sich zeigen, ob man den hippen Spinnern oder Spät-68ern nochmals eine Chance gibt, lieber wieder dem Altbewährten vertraut oder vielleicht noch etwas ganz Neues aus dem Boden stampft.
Unseren französischen Nachbarn ist das jederzeit zuzutrauen. Die Etablierten arbeiten jedenfalls schon mit Hochdruck an einem neuen Zuschnitt der französischen Gemeinden, angeblich, um die Strukturen effizient zu machen. Dass Kompetenzen damit beschnitten und auf andere Ebenen verteilt werden, wird gern in Kauf genommen. So hebelt man die aufkeimenden Pflänzchen der partizipativen Demokratie geschickt aus. Selbstschutz eben.