Die Mitteleuropäer wollen mehr Autokratie – und fordern Brüssel heraus.
Es ist noch gar nicht so lange her, da schwelgte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker in rosaroten Fantasien. „Die EU hat wieder Wind in den Segeln“, schwärmte er bei seiner Rede zur Lage der Gemeinschaft im September. Der Luxemburger verwies dabei auf steigendes Wirtschaftswachstum und sinkende Arbeitslosigkeit im Club der (noch) 28. Ermutigt sah er sich durch die neue Geschlossenheit der EU mit Blick auf den Brexit und die politischen Knallkörper des amerikanischen Anarcho-Präsidenten Donald Trump.
Junckers Optimismus hat sich spätestens nach dem triumphalen Wahlsieg des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban als Illusion erwiesen. Der starke Mann von Budapest wurde für das von ihm seit Jahren betriebene Konzept der „illiberalen Demokratie“ belohnt. Er schränkte die Unabhängigkeit der Gerichte ein, nahm viele Zeitungen und Fernsehsender an die staatliche Kandare, bedachte ihm nahestehende Oligarchen großzügig mit öffentlichen Aufträgen.
Vor allem: Orbans rigoroser Kurs der Grenzsicherung mit Stacheldraht und Militär, sein an Populismus kaum zu überbietender Propaganda-Feldzug gegen eine „muslimische Invasion“ kam bei vielen Ungarn an. Das Argument, aus „Solidarität mit Europa“ ein festes Kontingent an Migranten aufzunehmen, verpufft.
Für die EU, die lange Zeit eine Asyl-Quote mit festen Verteilungszahlen angepeilt hatte, ist das ein Problem. Noch problematischer ist allerdings, dass es sich beim Orban-Faktor um kein isoliertes Phänomen handelt. In weiten Teilen Mitteleuropas hat die Politik eine ähnliche Struktur wie in Ungarn. Auch in Polen sind Justiz und Medien am staatlichen Gängelband. Jaroslaw Kaczynski, Chef der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), hatte Orban bereits 2016 versichert: „Wir lernen aus deinem Beispiel.“ In der Slowakei wurden bei der Ermordung des Investigativ-Journalisten Jan Kuciak im Februar Abgründe der Willkürherrschaft und Korruption sichtbar.
Mitteleuropa nähert sich heute einem Zustand, den die „New York Times“ als „Wahl-Autokratie“ bezeichnet hat. Die Urnengänge mögen formal gesehen demokratisch ablaufen und nicht manipuliert sein. Doch die Regierenden diktieren via Kontrolle von Medien und Institutionen die in der Öffentlichkeit verbreiteten Bilder. Kritiker gelten als „Vaterlandsverräter“ und werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die gedankliche Nähe vieler mitteleuropäischer Staats- und Regierungschefs zu Russlands Präsident Wladimir Putin ist kein Zufall. Ein trauriges Ergebnis 28 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.
Die EU darf dies nicht einfach tolerieren. Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit gehören ebenso zu ihrer politischen DNA wie die Grundsätze des Rechtsstaats. Diese Werte sind der ideologische Kitt auf dem Kontinent, der zwei furchtbare Weltkriege erlebt hat.
In Budapest, Warschau oder Bratislava scheint man darauf zu pfeifen. Dort herrscht ein opportunistisches Verhältnis zu Brüssel. Solange unzählige Milliarden aus den EU-Töpfen Richtung Osten fließen, ist die Union gut und nützlich. So kassierte Polen zwischen 2004 und 2016 mehr als 80 Milliarden Euro und ist damit der größte Profiteur. Ungarn kam im gleichen Zeitraum auf 48 Milliarden Euro. Sobald aber gemeinschaftliches Handeln im Geben-und-nehmen-Mechanismus angemahnt wird, duckt man sich weg.
Was also tun? Vertragsverletzungsverfahren, wie sie die EU gegen Polen auf den Weg gebracht hat, sind ein stumpfes Schwert. Die Drohung, nach Artikel 7 des EU-Vertrags die Stimmrechte zu entziehen, lässt sich nicht durchsetzen. Sie erfordert die Einstimmigkeit der restlichen EU-Mitglieder – die Mitteleuropäer würden zusammenstehen und hätten eine Art Minderheitsveto.
Aber die Finanzen sind der Hebel, der wirken könnte. Im EU-Budget von 2021 bis 2028 sollte die Vergabe von Mitteln an rechtsstaatliche Bedingungen geknüpft werden. Haushaltskommissar Günther Oettinger hat dies zu Recht vorgeschlagen und zugleich eingeräumt, dass die Aufstellung von verbindlichen Kriterien kompliziert ist. Dennoch muss Brüssel gegenhalten. Es geht um Werte, europäische Identität und Glaubwürdigkeit. Dabei darf man ruhig auch mal den dezenten Hinweis geben: Wer demokratischen Grundprinzipien ablehnt, hat in der Gemeinschaft eigentlich nichts zu suchen.