Zwischen Atlantik und Namibias Savannen liegt die Namib. Wer quer durch die älteste Wüste der Welt wandert, entdeckt Schiffswracks, wunderliche Tiere – und gigantische Dünen wie Sand am Meer.
Ecken und Kanten hat sie am Anfang noch keine. So beginnt die Namib, wie sie ein paar Tagesmärsche entfernt im Landesinneren wieder enden wird: fließend. Weiß aufgeschäumte Wellen aus dem weiten Atlantik versickern auf dem von pulverisiertem Granat purpur gefleckten Strand. Dahinter geht es sanft weiter, ein harmonisches Auf und Ab, eine wogende Landschaft wie der Ozean. Doch einige Wanderetappen, etliche durchgeschwitzte Hemden und unzählige Liter Trinkwasser später wird sich die älteste Wüste der Welt auftürmen und Farbe auflegen. Sie wird ihren erst goldgelben, dann orangefarbenen, schließlich in dunklem Rot leuchtenden Sand aufschichten, zuspitzen, und so weit in den Himmel wachsen lassen, dass ihre Dünen zu den höchsten der Welt zählen.
Salz auf der Haut, Sonne im Gesicht, Sand in den Schuhen: So geht es durch die Wüste, Schritt für Schritt für Schritt. Die Route führt einmal quer hindurch in Ost-West-Richtung, weil die Namib schmal und lang ist. Vier Tage lang jeweils 20 Kilometer Strecke in sieben bis acht Stunden: Das schafft man gut als geübter Wanderer, auch wenn die letzten Meter hinauf zu den windigen Dünenkämmen oft viel Kraft kosten. Doch dafür darf man auf der anderen Seite dann wie in Siebenmeilenstiefeln den Rutschhang hinunter rennen.
Wenn die Wüste einen verzaubern will, reiben die Milliarden Sandkörner dann so aneinander, dass Töne entstehen – die Dünen singen. Auch wer vorher gespürt hat, dass am Abend nicht nur kaltes Bier warten wird, sondern auch ein ordentlicher Muskelkater, nimmt dann mit einem Lächeln auf den Lippen den nächsten Anstieg in Angriff.
Dünen, Berge und Canyons
„Wir wandern dorthin, wohin kaum jemand hinkommt“, sagt Jerome Blösser. Als er einmal in der Sahara unterwegs war, gaben ihm die Nomaden den Namen „Sohn der Wüste“, weil der Deutsche sich dort zu Hause fühlte wie sie selbst. Nun führt er kleine Gruppen von Gleichgesinnten in die Trockengebiete der Welt. In Nordafrika machen die politischen Umstände dem Wüstenfreund aktuell das Leben schwer, doch Namibia ist eines der stabilsten Reiseländer des Kontinents.
Die Namib, die der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika ihren heutigen Namen gegeben hat, ist im Vergleich mit anderen Trockenzonen ein Winzling. Doch sie gilt als die älteste Wüste der Welt, und ist deshalb außergewöhnlich bunt. Die Eisen-Ionen im ursprünglich weißen Sand sind in den vergangenen 80 Millionen Jahren oxidiert und haben mikroskopisch kleine Rostpartikel gebildet. So schwelgt man allabendlich bei Sonnenuntergang im Farbenrausch, weil der Sand in 1.001 Rottönen glüht.
Luxus, das kann eben auch heißen, dass einem niemand über den Weg läuft, und um einen herum nur Natur ist. Tagsüber sieht man ein wogendes Meer aus Sand. In den Nächten ist dann die Stille fast mit Händen zu greifen. Sie legt sich wie ein Vorhang über die unberührte Landschaft, in der sich nichts zu regen scheint, in der nur die große Leere wohnt. Alles hält gespannt den Atem an. Nur ab und an streicht der Wind sanft über die Zeltplanen, ein kurzes Flattern, dann herrscht wieder Schweigen. Es ist derart ruhig, dass man zur Geisterstunde aufwacht und irritiert nachschaut, ob da draußen wirklich nichts ist außer einem selbst und der Weite der Einsamkeit. Doch das einzige, was sich in diesem Moment bewegt, ist eine Sternschnuppe aus der am Himmel leuchtenden, galaktisch funkelnden Diamantenkollektion.
Ein fremdes Land ist dieses Namibia, voller Wüsten und Dünen, voller Berge und Canyons. Mit Giraffen und Zebras und Antilopen in den topfebenen Savannen des Nordens rund um die Etoschapfanne, dazu den legendären „Big Five“: Elefanten und Nashörnern, Löwen, Leoparden und – im Caprivizipfel sowie auf dem hoch aufragenden Waterbergplateau – auch noch einigen Büffeln. Viele Stunden lang kann man hier von einer entlegenen Gästefarm zur nächsten reisen, ohne auf der bis zum flimmernden Horizont führenden Staubpiste einem anderen Fahrzeug zu begegnen. Mehr als doppelt so groß wie Deutschland ist Namibia, und hat trotzdem weniger als zweieinhalb Millionen Einwohner.
Wer die Weite des afrikanischen Südwestens begreifen und die Szenerien als realen Panoramafilm erfahren will, muss sich also zuerst Zeit lassen und sollte dann in die Wüste gehen – dort ist Namibia nämlich noch leerer als anderswo. Die ersten europäischen Siedler, die hier Farmen aufbauen wollten, schimpften die Region dagegen „Das von Gott im Zorn erschaffene Land“. Sie waren erst erschreckt von der Wildheit der Landschaft und dann wütend angesichts des allgegenwärtigen Mangels an Wasser. Selbst in guten Regenjahren sind Namibia und der Nachbar Botswana die trockensten Länder südlich der Sahara.
Zu Fuß quer durch die Namib: Das wäre den Siedlern damals wirklich nicht in den Sinn gekommen, und klingt auch heute noch nach viel Risiko und Plackerei. Doch tragen müssen die Wanderer nur ihren Tagesrucksack. Wasser, Essen, Gepäck, die mobile Küche und die Campingausrüstung sowie als unerwartetes, aber am Ende heiß geliebtes Accessoire sogar eine mobile Dusche: All das schaffen Abend für Abend jene Geländewagen heran, die die Tour eskortieren und doch ihren eigenen Weg über die Dünen finden müssen. Selbst schultern könnte man eine derart schwere Last nie. Für Notfälle gibt es nicht nur Kompass und Karten, sondern auch ein Satellitentelefon. Die von der Verwaltung des Namib-Naukluft-Nationalparks erteilte Genehmigung für die Querung der Namib gilt deshalb nur für diese geführten Gruppen. Auf eigene Faust darf man die Wüste aus Sicherheitsgründen nicht erkunden. Über die Jahre haben sich einfach zu viele Besucher in der Wüste verirrt – und Oasen gibt es keine.
Lebensfeindlich ist die Namib aber nur, weil die Menschen sich nicht anpassen können an Hitze und Trockenheit – wie die Schiffbrüchigen, die hier unfreiwillig an Land gingen, weil die Kapitäne in den Nebelbänken der Skelettküste die Orientierung verloren hatten. Mit viel Glück wurden sie von Diamantensuchern gerettet, die in der Einsamkeit auf den großen Fund hofften. Ihre Geisterdörfer mit den zum Schürfen nötigen Utensilien haben sich im Wüstenklima bis heute erhalten. Flugsand hat die Holzfassaden der windschiefen Hütten poliert, doch in manche könnte man noch immer einziehen. Nur Wasser gibt es nicht: Fass für Fass wurde das kostbare Nass damals mit Ochsenkarren hergebracht. Auch den Dampfer Eduard Bohlen, der hier 1909 auf Grund lief, findet man rostend im Sand. Durch Verlandung liegt das Wrack heute mehrere Hundert Meter von der Küste entfernt und wird langsam von einer Düne verschlungen.
Tiere scheinen dagegen zurechtzukommen mit dem Mangel an Trinkwasser. In der Gischt des Atlantiks tummeln sich Seebären. Der namibische Guide Nico Visser, der die Tour begleitet, entdeckt die Spuren von Hyänen und Schakalen im Sand und weiß auch andere Zeichen richtig zu deuten. So buddelt er plötzlich im Sand, um einen Namibgecko freizuschaufeln: Die nachtaktive Echse hat Haut zwischen den Zehenspitzen und kann so über den Sand laufen, ohne einzusinken.
Das Reptil hat noch mehr raffinierte Techniken zu bieten, um hier überleben zu können. „Dieser Gecko frisst Insekten. So nimmt er nicht nur Nahrung, sondern auch Feuchtigkeit auf“, erklärt der Naturkundler. „Wenn es aber hart auf hart kommt, stellt er sich auf den Dünen so auf, dass die Wassertropfen aus dem Nebel auf seinen Augen kondensieren.“ Nicos menschliche Adleraugen spüren im Laufe der Zeit auch andere spannende Tiere auf: ein Wüstenchamäleon und die radschlagende Weißspinne. Die trägt ihren sonderlichen Namen, weil sie sich bei Gefahr in eine Kugel verwandelt und mit Hilfe ihrer acht Beine derart schnell die Dünen herunterstürzt, dass ihr niemand folgen kann.
Nach Tagen des Wanderns an der Küste und quer durch die Wüste blitzt durch die immer röter werdenden Landschaften schließlich das Weiß des Sossusvlei. Einige versprengte Kameldornbäume und die Büschel zäher Gräser säumen die Pfanne, in der sich Lehm abgesetzt hat, inzwischen steinhart gebacken von der unerbittlichen Sonne. Herangetragen hat ihn der Trockenfluss Tsauchab. Nur alle Jubeljahre, zuletzt 2011, führt er für ein paar Tage lang Wasser. Doch selbst dann schafft er es nicht zum hier gerade einmal 50 Kilometer entfernten Atlantik. Er versickert im Sandmeer, weil die Dünen der Namib träge sind und eigensinnig, und deswegen auch dann nicht wegwandern, wenn es ein Fluss einmal eilig hat.
Eine Teerstraße führt im Tal des Tsauchab vom östlichen Eingang des Namib-Naukluft-Nationalparks bis kurz vor das Sossusvlei. Tag für Tag, immer morgens früh und dann erneut am Abend, müssen die agilen Springböcke und die nicht minder eleganten Oryxantilopen mit ihren spitzen Hörnern hier ziemlich hurtig vom Asphalt hüpfen, um zu überleben, weil ihnen dann die schneller als erlaubt heranbrausenden Busse permanent die Vorfahrt nehmen. Für manche Guides sind Geschwindigkeitsbegrenzungen anscheinend nur lästiger Sand im Getriebe.
Am Sossusvlei und direkt nebenan am Deadvlei, dem namibischen Tal des Todes, wo vertrocknete Bäume gebleichte Äste ausstrecken wie Spinnenfinger, wachsen die gewaltigsten Dünen der Namib in den Himmel. Fast 400 Meter hoch soll „Big Daddy“ sein, und auch seine nächsten Verwandten können da locker mithalten. Doch singende Dünen gibt es hier nicht, sondern seltsamerweise nur dort, wo kaum Menschen sind. Das grellste Licht, die kräftigsten Farben, vor allem aber die größte Leere und nachts den funkelndsten Sternenhimmel kann man in der Namib ebenfalls nicht einfach en passant mit dem Auto erfahren.
Um all das zu erleben, muss man den Rucksack packen, die Stiefel schnüren, und für ein paar Tage mitten ins Herz der Wüste gehen.