Möbel, die sich nach Gebrauch wie Pappkartons entsorgen lassen? Das gibt es: Leicht, schön und zum Selberbauen – Stange Design entwirft und fertigt in Berlin Betten, Regale, Tische und Stühle aus dem Werkstoff.
Es rumst, kurz wackelt der Boden. Aus einer Stanze fällt ein in Form geschnittenes Bauteil für ein Möbelstück. In der Produktionshalle von Stange Design an der Tempelhofer Ringbahnstraße 16–20 entstehen mit schwerem Gerät und in Handarbeit Tische, Stühle, Regale, Kommoden, Schränke und Betten. Sieben Mitarbeiter sowie die Gründer Mechthild Kotzurek-Stange und Hans-Peter Stange lassen im Büro, in der Manufaktur und im Ausstellungsraum das auf den ersten Blick Unmögliche Realität werden: Hier entstehen Möbel, Ausstellungsbauten und Objekte. Sie sind leicht, stabil und nachhaltig. Und sie sind allesamt aus Wellpappe.
Wir verfolgen die Herstellung eines Zeichenschranks: Auf Europaletten gelagerte große Pappplatten warten auf ihre Weiterverarbeitung. Ein Hersteller fertigt sie eigens nach den Wünschen von Stange Design an. Sie werden mit einer Rollschere an einem übergroßen Tisch ins richtige Format geschnitten und vorgefalzt; je nach Komplexität des Werkstückes bis zu drei Mal pro Platte. Anschließend übernimmt Sergey Poleshchuk an der Stanzmaschine. Er spannt die Stanzwerkzeuge ein: Auf blauen Holzplatten sind Messer und Gummihalterungen in den Konturen des jeweiligen Stückes aufgebracht. Pappzuschnitt in die Maschine eingelegt, Hände weg, Rumms! – Die Stanze saust mit mehreren Tonnen Druck auf die Pappe und bringt sie in Form. Fertig ist das Bauteil für ein Möbel.
Im Prinzip kann nun jeder die Stücke selbst zusammenbauen, ganz gleich, ob kleines Regalelement oder mannshohe Garderobe. Nur ein Zeichenschrank, just das Modell „Dädalus" im A1-Format aus der Stanze, ist eine Ausnahme. Er wird als einziges Möbel zusammengebaut verkauft. Eine Art kniffeliges Kleinteile-Tetris mit sechs unterschiedlichen Formen für die Schubladen-Führungen ist nicht jedermanns Sache. Der Zeichenschrank ist auch zusammengebaut gut versandfähig; preiswerter als übliche Schränke aus Holz oder Metall ist er mit knapp 150 Euro allemal.
Vom kleinen Regal bis zur Garderobe
„Unsere Hauptsorge ist es, sehr hochwertige Wellpappe zu bekommen. Sonst reißt das Material", erzählt Mechthild Kotzurek-Stange. „Das ist schwer geworden", wirft Hans-Peter Stange ein, der soeben ins Büro gekommen ist. „Der Papierverbrauch ist durch den Online-Handel enorm gestiegen, die Preise ebenso. Wir müssen um unsere Mengen kämpfen." Stange Design ist eben nicht Amazon.
Die Pappmöbel sind seit jeher nicht nur ästhetisch ansprechend, sondern ebenso für den Versand optimiert gestaltet. Das Bett „Dream", seit 1989 einer der Renner bei den Kunden, lässt sich jedoch nicht aus Bananenkisten-Pappe fertigen. Große, plane Flächen brauchen viel Recycling-Material – die geforderte Stabilität oder Biegsamkeit geben vor, wie viel wiederverarbeitetes Papier in der Pappe steckt. Außenseiten hingegen werden aus „frischem" Papier gefertigt – das hat längere Fasern und hält besser an den Knicken. Aus 40- bis 60-prozentigem Recycling-Material, also aus „grauem" Papier, werden dagegen die gewellten Innenbahnen hergestellt. Sie sorgen im Inneren einer mit Holzleim verklebten Wellpappen-Bahn für Stabilität. „Für die Flächenstabilität braucht man große Wellen", erläutert Mechthild Kotzurek-Stange. Anders als bei den Schubladen für den Zeichenschrank etwa. Diese müssen gut von Hand zu falzen und zusammenzustecken sein. Sollen die Gegenstände überdies farbig oder besser vor Flüssigkeit geschützt werden, wird wasserlöslicher Acryllack aufgetragen.
Mechthild Kotzurek-Stange ist Gründerin und Geschäftsführerin. Als Fachfrau fürs Produkt- und Produktionswissen im Team betreut sie die Kunden, die häufig Sonderanfertigungen etwa für Ausstellungen, Messen oder Events wünschen. Co-Geschäftsführer Ralf Dissmann hat andere Aufgaben: Er behält vor allem die Finanzen im Blick, kümmert sich außerdem um Organisation, Personal und Verkauf.
Kampf mit Amazon um gute Pappe
Gründer Hans-Peter Stange zog sich Ende 2017 aus der Geschäftsführung zurück. Er konzentriert sich nun teils von zu Hause aus, teils in den Räumen in Tempelhof auf die Entwicklung neuer Produkte. „Er ist bis heute der Tüftler und kreative Kopf", sagt Mechthild Kotzurek-Stange. Der 68-Jährige erfindet und gestaltet Möbel, Displays, Ausstellungsmaterialien und Prototypen. „Meinen Mann nervt es eher, die immer gleichen Sachen zu machen." So verblüfft es wenig, zu erfahren, dass Hans-Peter Stange kein ausgesprochenes Lieblingsmöbel hat. „Vielleicht den ‚Tabula Rasa‘-Tisch, an dem er selbst zu Hause arbeitet", sagt seine Frau.
Ihre Favoriten sind die vielfältig variierbaren A3-Regale. Im eigenen Haus in Lichtenrade stehen Bücher, Schuhe und Vorräte darin. Früher beherbergten sie auch Kinderspielzeug oder waren „Rahmen" für die Puppenstube der Kinder. Die beiden erwachsenen Töchter der Stanges gehen längst als Grafikerin und Gemälde-Restauratorin eigene künstlerische Wege. Möbel wie der Papp-Hocker „Maks" von 1979 und das „Lego-Regal", ein Türmchen mit einem spitzen roten Dach und Schubladen, wurden ursprünglich auch nach dem Eigenbedarf der Familie entwickelt.
Pappe war nicht nur Studien-Gegenstand der beiden Industriedesigner, die sich an der Berliner Hochschule der Künste in den 70er-Jahren kennenlernten und sich beruflich wie privat bald zusammentaten. „Das war im Studium nicht gern gesehen", erinnert sich Mechthild Kotzurek-Stange. „Es wurde viel Wert auf eine eigenständige kreative Entwicklung gelegt." Damals entstand auch die Gründeridee für das eigene Unternehmen. Das war 1985. Bei Stange Design, damals ein paar Ecken vom heutigen Standort entfernt, im ersten Stock und ohne Aufzug, wurden die Muster von Hand gebaut. Früher noch ohne Schneidplotter, „so richtig mit Bleistift, Lineal und Cutter. Nur mit dem Hochtragen wurde es schnell zu viel", erzählt Mechthild Kotzurek-Stange.
„Hugo" zum Patent angemeldet
1990 fand das junge Unternehmen dann die aktuelle Adresse. Hocker und Pappbett machten sich rasch „selbstständig", wurden Dauerbrenner. Die Wahrscheinlichkeit, zumindest in Berlin den Allerwertesten bei irgendeinem Event schon mal auf einen der sechseckigen Hocker gesetzt zu haben, ist groß. Verdi, das Deutsche Historische Museum und die Berlinale etwa waren bereits Kunden. Von den Pappbetten werden täglich so viele verkauft, dass sie inzwischen vorgefertigt und verpackt vom Papphersteller geliefert werden. „Wir wären sonst den ganzen Tag nur mit Betten befasst."
Ökologisches Bewusstsein, berufs- oder studienbedingte Mobilität, Wohnraummangel und günstige Verkaufspreise spielen dem Erfolg in die Hände. Seit inzwischen 33 Jahren, Tendenz steigend. Haltbar sind die Möbel je nach Nutzung und Belastung durchaus länger als zehn Jahre. Eine dampfige Nasszelle mit Pappe zu möblieren, wäre zwar wenig sinnvoll, aber ein flüchtiger Spritzer schadet den Möbeln nicht. Im Zweifelsfall schützen eine Lasur oder Glasplatte die Oberflächen zusätzlich vor Feuchtigkeit.
Setzte man früher weitestgehend auf die Überzeugungskraft von Qualität und mündlicher Weiterempfehlung, steht nun der Vertrieb stärker im Fokus. Die Website und der Onlineshop wurden überarbeitet. Auch einen Facebook- und einen Instagram-Auftritt gibt es inzwischen. Innovationen, ständige Weiterentwicklung und Optimierung der Gegenstände gehören zum Konzept und sind insbesondere Hans-Peter Stanges Passion. Die Garderobe „Adam Riese" erhielt beispielsweise kürzlich ein zusätzliches Stützelement im oberen „Bogen", das einer seitlichen Verschiebung bei voll behängter Stange entgegenwirkt. Gerade eben wurde das schmale Bücherregal „Hugo", mit 20 Zentimetern kaum tiefer als ein Taschenbuch, zum Patent angemeldet. Solche Schutzmaßnahmen sind notwendig, denn seit die Pappmöbel von Stange mehr ins öffentliche Bewusstsein rückten, gab es durchaus Plagiat-Versuche, etwa beim Bett. Sie wurden juristisch erfolgreich abgewehrt. Bald kommt vom originalen „Dream"-Bett ein schmaler Abkömmling mit fixen 90 Zentimetern Liegefläche ins Programm. Auch ein überlanges Modell mit 2,30 Metern Länge ist inzwischen erhältlich – beides Resultate von Kunden-Rückmeldungen, die die Stanges bei der Produktentwicklung aufnahmen. Die Betten sind robuster als manch einer denkt: Sie tragen bis zu 1.000 Kilogramm und überstehen auch Umzüge. Endet der Lebenszyklus eines Möbels, kann es mit dem Cutter zerschnitten und im Altpapier recycelt werden.
Kanonenrohre oder kleine Tiere
Der Fokus liegt mittlerweile verstärkt auf dem Verkauf der Pappmöbel an private Endkunden; die Nachfrage steigt stetig. Doch auch Stellwände, Schautafeln und Möblierungen für Schulungen und Seminare sind nach wie vor ein wichtiges Geschäftsfeld. Außerdem fordern Sonderaufträge immer wieder das Geschick und die Kreativität der Designer: Ein 30 Meter langes Kanonenrohr, Granaten und ein Acht-Meter-Schiffsbug für die Erste-Weltkriegs-Ausstellung „Sommer Vierzehn. Die Geburt des Schreckens der Moderne" im Dokumentationszentrum Nürnberg waren solche spektakulären Objekte.
Ein Gegengewicht dazu sind die vergleichsweise kleinen Tiere, die Kunden bestellt haben. So ließ sich das Berliner Gastro-Start-up „Bone Brox" eine Regal-Kuh als „Sixpack"-Display für seine Knochenbrühe-Gläser entwickeln. Regalschaf „Molly" in Schwarz, Braun oder Weiß bietet mit 74 Zentimetern Stockmaß Platz für Bücher und Zeitschriften. Oder für Woll-Unterwäsche, die ein Wäschehersteller darin auf einer Messe präsentierte. Mini-Schaf „Wolly" mit seinen knapp 15 Zentimetern dagegen nimmt Visitenkarten zwischen seinen Rippen auf oder steht einfach dekorativ in der Gegend herum. Auch ein Goethe-Kopf, ein Hubschrauber, eine Schneiderpuppe namens „Heidi", ein runder Tisch in der Optik eines Amphitheaters und sogar Papp-Vasen entstanden als Prototypen und gingen teils in Serie. Die Spiel- und Experimentierfreude kennt bei den Chefs wie bei den Mitarbeitern im Hause Stange eben keine Grenzen.