Das Attentat auf Studentenführer Rudi Dutschke am 11. April 1968 hat die BRD verändert. Dutschke überlebte zwar den Mordanschlag, erholte sich aber nie von dessen Folgen. Die Studentenbewegung radikalisierte sich und zerfiel in Politgruppen.
Die Situation war bedrohlich: Fünfmal bereits hatte Rudi Dutschke mit seiner Familie die Wohnung gewechselt. Stinkbomben wurden durch den Briefschlitz geworfen, mit roter Farbe neben die Tür geschmiert: „Vergast Dutschke." Als er bei einem Go-in in der West-Berliner Gedächtniskirche an Weihnachten 1967 eine Diskussion über den Vietnamkrieg beginnen wollte, schlug ihn ein Kirchenbesucher nieder. Bei vom Berliner Senat organisierten Pro-Amerika-Demonstrationen trugen Teilnehmer Plakate mit seinem Porträt und der Aufschrift „Volksfeind Nr. 1". Die Medien schrieben über sein „ungepflegtes Äußeres" und forderten ihn auf, in die DDR zurückzukehren.
Kein Wunder, dass sich Dutschke verunsichert fühlte, als er am Nachmittag des 11. April auf dem Kurfürstendamm 140 in der Nähe des Hauses des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) darauf wartete, dass die Apotheke nach der Mittagspause wieder öffnete. Er wollte Nasentropfen für seinen Sohn Hosea Ché kaufen. Ein paar Tage zuvor hatte Dutschke auf eine entsprechende Frage des Fernsehjournalisten Wolfgang Venohr geantwortet: „Normalerweise fahre ich nicht allein rum. Es kann natürlich irgendein Neurotiker oder Wahnsinniger mal ’ne Kurzschlusshandlung durchführen."
Jahre später, 1976, hat Rudi Dutschke im „Stern" die Situation so geschildert: „Natürlich schaut man sich (…) des Öfteren um, ohne bedeutend aufzufallen. Nach 10 bis 15 Minuten Sitzen auf dem Fahrrad machte mich etwas aufmerksam, ein Mann war aus einem Auto, welches sich gerade gegenüber vom SDS-Eingang in der Kudamm-Parkmitte eingenistet hatte, ausgestiegen und bewegte sich immer mehr von seinem Auto weg, blieb in der Mitte, näherte sich mir, ohne zu begreifen oder zu verstehen, dass diese Person sich direkt an mich heranmachen wollte, um mich zu ermorden, es zu versuchen. Nach vier bis fünf Minuten standen wir uns gegenüber, zwischen uns war nur noch die Straße. Nachdem die letzte Autowelle vorbei war, kam er über die Straße, ging entspannt in einem Abstand vorbei und wendete sich vom Gehweg mir direkt zu, stellte die Frage: ‚Sind Sie Rudi Dutschke?‘ Ich sagte: ‚Ja‘, die Schießerei begann (…)."
Attentäter war in der Neonazi-Szene aktiv
Der Mann war der 23-jährige Hilfsarbeiter Josef Bachmann. Er war am Morgen aus München kommend aus dem Interzonenzug gestiegen und suchte den Studentenführer. Er ging zuerst zur Wohnung der Kommune 1 in der Kaiser-Friedrich-Straße, wo ihm Rainer Langhans riet, im SDS-Zentrum nachzufragen. Bachmann ließ sich im Einwohnermeldeamt die Adresse des SDS-Zentrums geben und ließ sich mit einem Taxi dorthin bringen.
Der Attentäter ging kaltblütig vor. Aus nächster Nähe schoss er Dutschke zwei Kugeln in den Kopf und jagte dem blutenden, am Boden liegenden Mann eine weitere in die Schulter. Danach flüchtete er in eine Baustelle, wurde aber schnell entdeckt. Während seiner Verhaftung schoss Bachmann um sich, konnte aber durch eine Polizeikugel gestoppt werden. Nach seiner Verhaftung gab er zu Protokoll: „Ich möchte zu meinem Bedauern feststellen, dass Dutschke noch lebt. Ich hätte eine Maschinenpistole kaufen können. Wenn ich das Geld dazu gehabt hätte, hätte ich Dutschke zersägt."
Bachmann wurde wegen versuchten Mordes zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. 1970 nahm er sich in seiner Zelle das Leben. Erst 2009, lange nach dem Ende der DDR, stellte sich aufgrund von Stasi-Akten heraus, dass Bachmann nicht als „wirrer" Einzeltäter gehandelt hatte, wie es damals hingestellt wurde. Er war schon länger in der Neonazi-Szene im niedersächsischen Peine aktiv, hatte an Schießübungen teilgenommen und mit seinen braunen Gesinnungsfreunden mehrfach die innerdeutsche Grenze zur DDR attackiert – mit Schüssen, Steinwürfen auf Minen und dem Niederreißen einzelner Zaunabschnitte. Von einem Neonazi hatte er offenbar auch Waffen und Munition erhalten.
Dutschke wurde durch die beiden Kopfschüsse schwer verletzt. Seine Frau Gretchen schrieb, dass ihm zehn Zentimeter seines Gehirns fehlten. Er überlebte, aber die Folgen des Attentats wurde er nie mehr los. Zwar erkannte er seine Familie und die Freunde, aber er hatte ihre Namen vergessen. Alltagsgegenstände deutete er mit den Händen an, ein Wort wie „Buch" fehlte ihm. Mühsam eignete er sich durch monatelanges Training Sprache und Gedächtnis wieder an. Die Familie verließ Deutschland, ging zu einem Kuraufenthalt in die Schweiz, dann über Italien und Großbritannien nach Dänemark. Die Universität Aarhus stellte ihn als Dozenten an.
Einige Tausende riefen „Springer Mörder"
In den 1970er-Jahren engagierte Dutschke sich, geistig wieder genesen, gegen Berufsverbote in der BRD und gegen Menschenrechtsverletzungen in der DDR und in der Sowjetunion, nahm an Anti-Atomkraft-Demonstrationen teil und näherte sich den Grünen an. An Heiligabend 1979 starb er nach einem epileptischen Anfall in der Badewanne.
Gretchen Dutschke erinnert sich in einem Interview mit „Publik-Forum": „Vor dem Attentat hatte Rudi keine Angst gehabt, vor nichts und niemandem. Jetzt war er ziemlich ängstlich, manchmal sogar übertrieben. (…) Aber seine politischen Ziele und Analysen hatten sich nicht geändert. (…) Das Problem waren die epileptischen Anfälle. Er hat immer meinen Namen geschrien, bevor er bewusstlos geworden ist."
Schon kurz nach dem Attentat versammelten sich 2.000 Studenten im Audimax der Technischen Uni. Der SDS-Aktivist Hans-Joachim Hameister brachte die Stimmung auf den Punkt: „Der Lügner und der Mörder heißt Springer. Das Attentat von heue Nachmittag ist ein öffentlich vorbereitetes Attentat, begonnen durch den Springer-Konzern. Geduldet und gefördert und gepriesen als Bekenntnis zur Demokratie und Freiheit von einem abhängigen Marionettensenat. Was in dem Attentat von heute Nachmittag sich Luft gemacht hat, ist ein System, das dieser Konzern verherrlicht und verschleiert, (…) ein System von Korruption und Gewalt (…)."
Am Abend zogen einige Tausend Menschen vor das Springer-Hochhaus, in die heutige „Rudi-Dutschke-Straße", und skandierten „Springer Mörder!". An der Spitze marschierte der Rechtsanwalt Horst Mahler, Bernd Rabehl vom SDS, von der Kommune 1 Fritz Teufel, Dieter Kunzelmann und Bommi Baumann. Ulrike Meinhof war auch dabei, sie stellte ihr Auto als Barrikade zur Verfügung, um die Auslieferung der „Bild"-Zeitung zu verhindern. Auch Peter Urbach, der Polizeispitzel, mischte mit – er war es, der die Molotowcocktails verteilte. Gretchen Dutschke schreibt in ihrer Biografie, dass selbst die Polizisten an diesem Tag irgendwie begriffen hatten, wer der eigentlich Schuldige war. „Sie hielten sich zurück, als die aufgebrachten Menschen Lieferwagen verbrannten und Fenster einwarfen."
Der Funke sprang spätestens nach dem Sturm auf das Springer-Hochhaus nach Westdeutschland über. In 27 Städten kam es zu Protesten und Straßenkämpfen. In Hamburg versuchten Demonstranten die Lastwagen, die aus der Druckerei des Springer-Konzerns kamen, zu stoppen. Am 1. Mai 1968 marschierten mehr als 50.000 Demonstranten durch Westberlin. Ende Mai musste der Bundestag in Bonn durch ein massives Polizeiaufgebot abgeriegelt werden, damit einige Zehntausend Demonstranten nicht die Verabschiedung der Notstandsgesetze stören konnten.
Grüne nahmen vieles von Strömungen auf
Stand die Revolution vor der Tür? Vielleicht, wenn eine Zentralfigur wie Rudi Dutschke die auseinanderstrebenden Flügel zusammengehalten hätte. Vom Ausland aus versuchte er über die „Rote Presse-Korrespondenz" (RPK) Einfluss zu nehmen. Aber auch das Berliner Büro des SDS, das die RPK herausgab, wurde vom Spalter-Virus infiziert. Dutschke verlor sein Sprachrohr.
Polit-Sekten blieben zurück: Proletarische Linke, KPD/AO, KPD/ML, KAB/ML, Rote Zellen, Spartakisten, Tupamaros, Trotzkisten. „Die APO hat sich in zwölf Fraktionen gespalten. Du bist in London. Meinhof, Mahler, Kunzelmann nach Arabien emigriert, Semler, Jeizke und Horlemann spielen sich als Mini-Stalins auf, jede Gruppe sieht ihre Konzepte als einzig richtige an", schrieb ein Genosse an Dutschke. Und Horst Mahler: „Die Genossen bringen sich alle zurzeit noch verbal gegenseitig um."
Der eine Teil der Bewegung verlor sich in den kommenden Jahren in immer neuen Grabenkämpfen und ideologischen Streitereien. Eine Zeitlang wurde sogar Mao Tse Tung zum neuen Führer der Weltrevolution ernannt, obwohl er Millionen von Menschen für seine politischen Ziele geopfert hatte. Den Terror der Baader-Meinhof-Gruppe verurteilten die meisten als „unproletarisch" und „isolierte Einzelaktionen".
Der andere Teil der Bewegung knüpfte an dem an, was mit den Kinderläden begonnen hatte: Überall breiteten sich Basisgruppen aus, die sich gesellschaftlich engagierten – für gefährdete Jugendliche, für die Dritte Welt, gegen Mietpreisspekulanten, für eine saubere Umwelt, gegen Atomkraft, für die Rechte der Frauen. Den Grünen gelang es, vieles davon aufzunehmen und 1979 zu einer Partei zu bündeln.
Dutschke erhielt im November 1968 einen Brief von Bachmann aus dem Gefängnis, in dem er seine Tat bereute. Rudi Dutschkes Antwort: „Du wolltest mich umbringen. (…) Schieß nicht mehr auf uns, kämpfe für Dich und Deine Klasse. (...) Der antiautoritäre Sozialismus nimmt auch für Dich Partei."