Das Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“ ist einer der Gedächtnisorte, der an die Schrecken der Nazi-Herrschaft erinnert. Wo die Nazis ihre Folterkeller hatten, erleben Besucher in Ausstellungen und Führungen den Werdegang der Täter, ihr Umfeld und ihre Beweggründe.
Durch die großen Glasfassaden des Gebäudes fällt Sonnenlicht. Noch ist es ruhig. Doch ab 10.30 Uhr füllt sich der Ausstellungsbereich. Gruppen bewegen sich von Bild zu Bild. Man hört Englisch und Französisch. Einzelne Besucher bleiben länger vor einem Foto stehen. Draußen sitzt schon die nächste Schulklasse auf den Stufen und wartet auf ihre Führung.
Das flache, gläserne Gebäude neben dem Martin-Gropius-Bau an der Niederkirchner Straße steht auf einer leeren Fläche. Rundherum ist alles abgeräumt, nur Schotter bedeckt den Boden. „Wir befinden uns an einem Ort, den es nicht mehr gibt“, sagt Florian Kemmelmeier, einer der 30 freien Mitarbeiter, die als Guide arbeiten. „An diesem Ort standen die Zentralen der Gestapo, der SS, das ‚Hausgefängnis‘ der SS, das Reichssicherheitshauptamt. Hier wurden die Verbrechen der Nazis geplant, die Befehle unterschrieben und die Todesschwadronen in Marsch gesetzt, egal ob in die Berliner Bezirke oder in die Ukraine.“
An welchem anderen Ort als diesem könnten wir die Frage besser stellen: Wie waren die Verbrechen überhaupt möglich? Wer trug dazu bei? Wie wurden aus „normalen Bürgern“ Männer, die kaltblütig Frauen, Kinder, Alte erschossen? Sie alle können doch nicht Durchgeknallte, Gewalttäter oder Fanatiker gewesen sein. Kemmelmeier sagt: „Niemand kommt in einer Uniform zur Welt.“
Keiner handelte ohne Publikum
Die „Topographie des Terrors“ stellt also die Täter in den Mittelpunkt: Das ist der Unterschied zu den anderen beiden zentralen Gedenkstätten in Berlin, das Jüdische Museum und das Holocaust-Mahnmal. Florian Kemmelmeier macht seit 2007 Führungen und leitet Seminare im Haus. Er machte die Erfahrung, dass gerade die Frage „Wie kam es dazu?“ das Interesse der Besucher auf die Gegenwart lenkt. Etwa darauf, wie Angehörige von Volksgruppen und Minderheiten diskriminiert werden. Oder auf die Mechanismen, mit denen ein Staatsapparat ohne Kontrolle und Gegenöffentlichkeit eine einzige „Wahrheit“ zur allein verbindlichen erklärt; wie aus Nachbarn Todfeinde werden, weil sie anders glauben, leben oder anderer Herkunft sind.
Die Dauerausstellung zeigt deutlich, wie Menschen zu Tätern wurden. Bereits in den Jahren vor 1933 war vieles angelegt, das der Propaganda-Apparat des Naziregimes nur noch umsetzen musste: die Verächtlichmachung Andersdenkender als „Volksverräter“, die Hetze gegen Juden, die Herabsetzung von Behinderten. „Das ging Schicht um Schicht nach 1933 vonstatten“, sagt Kemmelmeier. „Erst ging es gegen die politischen Gegner, dann gegen die angeblichen Müßiggänger und Faulenzer, die Kriminellen und Straftäter, die Behinderten und Geisteskranken und natürlich die Juden. Und am Ende waren es die entrechteten Zwangsarbeiter.“
Zwar waren bis 1938 „nur“ 8.000 bis 10.000 Menschen in Lagern eingesperrt, viele lediglich vorübergehend. Doch der Schrecken war manifest. Bis in die kleinsten Dörfer wussten die Menschen: Wer nicht pariert, wird umerzogen. Wer nicht arbeitet, kommt ins Arbeitslager. Wer nicht schweigt, wird mundtot gemacht. Erst in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre wurden die großen Konzentrationslager wie Buchenwald oder Neuengamme gebaut.
Außerdem wichtig: Die Täter waren nie allein. Kemmelmeier zeigt auf ein Foto, auf dem viele Menschen zwischen Bürgerhäusern eine Straße entlanglaufen. Die Stimmung scheint fröhlich. Doch in der Mitte sieht man etwas verdeckt einen Mann auf einer Kuh sitzen. Er ist ein SPD-Reichstagsabgeordneter. Und er hat ein Plakat auf der Brust, das ihn als „Volksverräter“ brandmarkt. Immer hätten solche Taten im sozialen Zusammenhang gestanden, sagt Kemmelmeier. Bei den Nazis war es die „Volksgemeinschaft“: „Kein Täter handelte ohne ein Publikum, ohne die Anteilnahme der Menschen um ihn herum, die zustimmten oder jubelten. Und früher oder später selbst mitmachten.“
Es habe jedoch immer auch die Möglichkeit gegeben, sich zu enthalten, sagt er und zeigt auf ein Foto der Bücherverbrennung auf dem Bebelplatz von 1933: „Sehen Sie, wie viele den rechten Arm gar nicht hoch gereckt haben?“ In der Ausstellung sind einige Fotos zu sehen, die Abweichler zeigen. Überraschend war auch für die Forscher: „Wir wissen nun“, sagt Kemmelmeier, „dass es keinen einzigen Fall gab, weshalb jemand aufgrund der bloßen Weigerung bei einer Mas-senerschießung mitzumachen, selbst ins KZ gesteckt oder erschossen wurde.“ Sie konnten die herunterspielenden Äußerungen aus der Nachkriegszeit, „man habe ja nicht anders gekonnt“ oder „man habe im ‚Befehlsnotstand‘ gehandelt“ widerlegen.
Wir sehen eine Mord-Elite mit Pensionsanspruch
Wer in die „Topographie des Terrors“ kommt, weiß, dass die Nazis Verbrecher waren. Aber was meint das überhaupt? Die „Nazis“, die „Nazi-Henker“, die Mörder – das konnte jeder sein. 80 Prozent der Gestapo-Angehörigen waren zuvor normale Polizisten. Kemmelmeier zeigt auf eine Reihe Köpfe, manche in Uniform und mit Mütze, andere in Zivil mit Oberhemd und Krawatte. „Ich frage immer, was diese Bilder für einen Eindruck auf die Besucher machen. Meist kommt als Antwort: ‚Die sehen doch ganz normal aus.‘ Und so waren es ganz ‚normale‘ Söhne – vereinzelt auch Töchter – aus gutbürgerlichen Häusern: Ärzte, Juristen, Lehrer, Pfarrer, Apotheker. Wir haben die Mord-Elite aus Schreibtischtätern vor uns, die an dieser Stelle, im Umfeld der obersten Spitze des Naziregimes, ihre Vernichtungsarbeit betrieben.“ An den biografischen Daten lässt sich ablesen, dass viele bis in die 1980er- oder 1990er-Jahre in der Bundesrepublik unbehelligt weiterlebten – eine Mord-Elite mit Pensionsanspruch.
„Eine Abwehrhaltung gegen die Ausstellung kann ich nicht feststellen“, meint Kemmelmeier, auf die Einstellung der Besucher hin angesprochen. „Es gibt auch kein Gefühl der Übersättigung oder ein ‚Jetzt ist es aber mal genug.‘ Eher kommen Fragen wie: ‚Woher wussten die Nazis, wer Jude war?‘ ‚Wie haben sie die Geisteskranken gefunden?‘“
Extremen Antisemitismus erlebe er nicht, auch nicht von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Andererseits fehle es Geflüchteten an Hintergrundwissen, und mit Willkommensklassen müsse man mit Übersetzungen und speziellen Konzepten arbeiten. AfD-Anhänger oder Pegida-Marschierer kämen nicht. Aber von der Idee, den Besuch der „Topographie“ zum Pflichtprogramm zu machen, hält er nichts. „Das könnte nach hinten losgehen. Wir bauen auf das Prinzip der Freiwilligkeit. Die Besucherzahlen steigen; das gibt uns Recht.“ Die Nachfrage nach Führungen ist so groß, dass die „Topographie“ ihr kostenloses Angebot zurücknehmen musste. Nur für Schulklassen und Bildungsträger ist alles frei.
Noch etwas lässt Kemmelmeier die Besucher erleben: Ein Foto zeigt eine Gruppe Soldaten. Im Vordergrund in Rückenansicht ein Gehängter. Jeder zweite Soldat hält eine Kamera in der Hand oder vor dem Auge. Das Bild macht deutlich: Alles ist aus der Täterperspektive, nicht aus der der Opfer zu sehen. Ein Foto vom geselligen Beisammensein beim Maiausflug gehört ebenso dazu wie eines von einer Massenerschießung. „Das ist einerseits ein Manko: Über die Opfer auf den Fotos wissen wir so gut wie nichts. Andererseits versucht gerade diese Ausstellung, begreifbar zu machen, wie Menschen zu Tätern werden. Damit wir daraus die Lehren für das Heute ziehen können.“