Trier erinnert in diesem Jahr mit großem Pomp an Karl Marx, Saarbrücken mit Nachdenklichkeit an Willi Graf. Der Umgang mit Geschichte und Gedenktagen bleibt schwierig.
Die Plakate waren kaum zu übersehen. Und sie fielen aus dem Rahmen. Keine ins Auge springenden Signalfarben und reißerische Slogans für irgendeine Produktneuheit, sondern in dezentem Blau und mit einem Zitat, das so gar nicht in die bunte Werbewelt passen will: „Jeder trägt die ganze Verantwortung“.
Es ist dieser Satz, den Willi Graf, der von den Nazis im Alter von gerade mal 25 Jahren hingerichtete Widerstandskämpfer, der Nachwelt ins Stammbuch geschrieben hat. Im Saarland und insbesondere in Saarbrücken, wo Willi Graf zur Schule ging und wo heute sein Grab ist, ist der Name ein Begriff und für einige Schulen sogar Programm. Bundesweit stehen dagegen die Geschwister Sophie und Hans Scholl im Mittelpunkt, wenn in diesem Jahr an die studentische Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ erinnert wird, der sich Willi Graf angeschlossen hatte. Ihr „Verbrechen“, für das sie hingerichtet wurden, waren Flugblätter gegen das NS-Regime. Was sie im Besonderen auszeichnete, war ihre Grundhaltung. Ihr Widerstand war nicht Ergebnis revolutionärer Umtriebe, sondern gründete auf tiefen christlichen und humanistischen Überzeugungen.
Nicht so einfach, heute einen angemessenen Umgang mit der Erinnerung daran zu finden. Wo heute ein simpler Tastendruck reicht, um Botschaften welcher Art auch immer weltweit zu verbreiten, ist für die jüngere Generation kaum noch vorstellbar, was es damals hieß, Flugblätter im Verborgenen zu drucken und dann persönlich unter die Leute zu bringen. Und das nicht als gerade mal spontane Idee, weil man sich über etwas aufgeregt hat, sondern wohlüberlegt und aus tiefer Grundüberzeugung und alles unter ständiger höchst konkreter Lebensgefahr.
Wie also umgehen mit diesem Teil der Geschichte, die so weit weg und jenseits der Lebenswirklichkeiten der dritten oder vierten Generation später liegt? Und lässt sich aus Geschichte überhaupt etwas lernen?
Raus aus den Gedenkstätten
Die Diskussion hat immer wieder zu Jahrestagen oder anlässlich besonderer Ereignisse Konjunktur. Nach der Wende war um Pflichtbesuche von DDR-Gedenkstätten wie Hohenschönhausen debattiert worden, und Pflichtbesuche von KZ-Gedenkstätten werden immer wieder vorgeschlagen. Zu Beginn des Jahres gab es einen Vorstoß aus Berlin. Auch die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) hatte die Überlegung aufgegriffen und darüber nachgedacht, Gedenkstättenbesuche für Schulklassen zur Pflicht zu machen. Ihr saarländischer Amtskollege und Parteifreund Ulrich Commercon hält dagegen nicht allzu viel von solchen Erwägungen. Aus didaktischen und pädagogischen Gründen lehnt er eine Verpflichtung der Schulen ab. Schüler könnten das als Zwang empfinden und damit bestehe die Gefahr, dass solche Verpflichtungen die gute Absicht konterkarieren könnten. Alfons Kenkmann, Professor für Didaktik der Geschichte, ist ebenfalls überzeugt, dass Zwang nicht zu einem reflektierten Geschichtsbewusstsein führt. Commerçon weist aber ausdrücklich auf die Empfehlung in den Lehrplänen in Geschichte und Gesellschaftswissenschaften hin, solche Besuche zu unternehmen. Angebote beispielsweise auch von politischen Stiftungen zu solchen Exkursionen sind im Übrigen in der Regel ausgebucht, Interesse also offensichtlich vorhanden.
Dass der Umgang mit Geschichte derart sensibel ist, scheint ein besonderes deutsches Problem zu sein, was insbesondere nach dem letzten Jahrhundert kaum verwundern kann. „Der Mensch will nicht an Unangenehmes erinnert werden“, konstatierte der Historiker Wolfgang Benz in einem „Zeit“-Interview. Folglich ist wenig verwunderlich, dass die Debatte um die Nazi-Zeit immer wieder von der Forderung begleitet wird, es müsse endlich mal einen „Schlussstrich“ geben, man dürfe nicht immer rückwärts schauen, müsse nach vorne blicken. Was Benz missfällt, ist die Art, mit der vielfach diese Themen behandelt werden: „Das Missionarische war lange Zeit das Problem bei der Geschichtsvermittlung“. Im Übrigen plädierte er dafür, „Geschichte aus den Gedenkstätten herauszuholen“ und historisches Lernen nicht nur auf Gedenktage zu beschränken. Für den ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog heißt Lernen aus der Geschichte die „Entschlossenheit oder zumindest die Bereitschaft, ‚es’ in Gegenwart und Zukunft besser zu machen. Ein Maßstab dafür könnte Willi Grafs Vermächtnis sein: „Jeder hat die ganze Verantwortung“.