Je älter Neil Young wird, desto kompromissloser will er sich künstlerisch austoben. Sein neuestes Studioalbum „Paradox" ist der Soundtrack eines retrofuturistischen Westerns, in dem der Grantler einen singenden Outlaw mimt. Nicht weniger verstörend ist die Konzertplatte „Roxy: Tonight’s The Night Live", die die dunkelste Phase seines bisherigen Schaffens widerspiegelt.
Er ist 72, sturmerprobt und kein bisschen leise: Neil Young, der kanadische Sänger und Gitarrist, hat gegenwärtig eine Menge zu erzählen. Im April erscheinen von ihm zwei neue Alben, er arbeitet an seinem ersten Roman, und im Lauf der nächsten Jahre sollen zehn verschollene Langspielplatten das Licht der Welt erblicken. Bei dieser Flut von Veröffentlichungen wird man den Eindruck nicht los, als ob man es mit einem Getriebenen zu tun hätte. Die Liebe zu seiner Frau Pegi, mit der er 36 Jahre zusammen lebte und zwei Kinder zeugte, ist erloschen. Dafür hat er mit dem Kiffen wieder angefangen und in der Schauspielerin Daryl Hannah eine neue Muse gefunden.
Digitale Dienste wie Spotify, Facebook, Apple, Google und Youtube sind heute die Mächtigen im Musikgeschäft. Aber man kann ihrer Dominanz durchaus etwas entgegensetzen. Das jedenfalls findet der Rockstar Neil Young. Der Grantler aus Toronto ist der letzte echte Rebell unter einer ansonsten eher glatten Sängerschar. „Die Technik-Giganten sind Idioten", schimpfte er kürzlich in einem Interview mit der „Chicago Tribune". „Das sind alles Verlierer! Sie funktionieren, indem sie uns Content geben, der wie Scheiße klingt. Sie wollen uns unsere Privatsphäre rauben und die Musik monopolisieren. Für die ist Kunst nur Content. Ein Algorithmus!" Neil Young findet, dass jeder Mensch das Recht hat, seine Meinung zu ändern. Aber Algorithmen könnten nur Spuren in unserer Vergangenheit verfolgen und gäben uns immer mehr von dem Gleichen. Das ist für den Rockstar nicht weniger als eine Beleidigung der menschlichen Intelligenz und der Seele, weil es ein Universum an Möglichkeiten verhindere.
Neil Young ist auf einer Mission. Er will die Wiedergabegüte der digitalen Musik verbessern. Er will Klangtreue. Er liebt Vinyl und hasst das Speicherverfahren MP3. Er hat einen eigenen digitalen Player auf den Markt gebracht, Pono. Dieser basiert auf hoch aufgelösten Musikdateien. Aber die erfolgreiche Streaming-Technologie machte Young einen Strich durch die Rechnung. Also setzte er sich daran, sein Archiv (neilyoungarchives.com) auf den neusten Stand der Technik zu bringen. Jetzt verspricht er eine Tonqualität, die fast alle Streaming-Dienste übertrifft. Mit denen will er sowieso nicht zusammenarbeiten. Momentan ist sein Archiv noch kostenlos, aber ab Sommer will er für diese Schatzkiste monatlich unter zwei Euro kassieren.
Pono heißt Youngs digitaler Player
Und was genau bekommt der Fan dafür? Einen uneingeschränkten Zugriff auf ein Werk, das seinesgleichen sucht: 40 Studioalben, ein gutes Dutzend Live-Platten und ebenso viele Konzertfilme. „Wir haben auch etliche obskure Schätze mit hineingestellt", sagt Young. Er hat vor, sein Archiv kontinuierlich auszubauen, bis sämtliche Töne, die er je aufgenommen hat, zugänglich geworden sind. Fans können sich in nächster Zeit auf zehn bisher unveröffentlichte Alben freuen, allein vier davon mit Youngs Lieblingsbegleitband Crazy Horse: „Early Days" enthält unveröffentlichte Studioaufnahmen der Jahre 1968 bis 1970. „Odean Budokan" dokumentiert die Welttournee von 1976. „Toast" wurde 2001 aufgenommen und kommt mit sehr düsterer Musik zwischen Rock und Jazz daher. „Alchemy" enthält einen Live-Mitschnitt von 2012.
Vor Kurzem ist der Soundtrack zu „Paradox" erschienen. So heißt das Regiedebüt von Youngs Lebensgefährtin Daryl Hannah. Die heute 57-Jährige war einer der erfolgreichsten weiblichen Hollywoodstars in den 80er-Jahren. Sie wirkte unter anderem in „Blade Runner", „Wall Street" und „Kill Bill" mit. Selbstredend hat Young die Hauptrolle in dem retrofuturistischen Streifen übernommen. Mit Dialogen wie „Love is like a fart. If you’ve got to force it, it’s probably shit" („Liebe ist wie ein Furz. Wenn du es erzwingen musst, ist es vermutlich Scheiße"), wird der Film sicher keine Grundsatzdiskussionen von philosophischer Qualität auslösen. „Für mich ist das eine Alternative zu Actionhelden-Filmen", sagt Young über die Low-Budget-Produktion, die gerade mal 125.000 Dollar gekostet hat. Zu sehen ist sie bei Netflix. Youngs Charakter, ein mürrischer alter Outlaw, ist nicht weniger als sein Alter Ego. In weiteren Rollen agieren Willie Nelson und dessen Söhne Lukas und Micah.
„Es wird ‚Ja‘ sagen, wenn ich bereit bin"
Die Musik hat Neil Young gemeinsam mit der Band Promise Of The Real aufgenommen, die – wen wundert‘s – im Kern aus den jungen Nelsons besteht. Der Score klingt eher verträumt als rockig, und etliche Songs sind bereits bekannt von jüngeren Alben wie „Storytone" und „Peace Trail". Zudem gibt es neue Versionen der Klassiker „Pocahontas" und „Cowgirl In The Sand". Der irgendwie wackelige und Lagerfeueratmosphäre verbreitende Soundtrack „Paradox" ist eher etwas für beinharte Fans. Aber Neil Young wäre nicht Neil Young, wenn er nicht schon den nächsten Coup vorbereitet hätte. „Roxy: Tonight‘s The Night Live" erscheint am 27. April und wurde 1973 in Miami Beach mitgeschnitten. Mit ihm auf der Bühne standen die Reste von Crazy Horse mit den Gitarristen Nils Lofgren und Ben Keith. Die elf ungeschliffenen Songs dokumentieren Youngs Gemütszustand nach den Überdosis-Toden des ersten Crazy-Horse-Gitarristen Danny Whitten und des Roadies Bruce Berry. Ein düsterer Trip in die Seele des Sängers. Das Schicksal seines Freundes Whitten hatte ihn nicht nur sehr getroffen, sondern bei ihm auch Schuldgefühle ausgelöst. Young fing an zu trinken und wurde immer intoleranter gegenüber seinen Mitmenschen. In dieser Phase behandelten ihn alle um ihn herum extrem vorsichtig, aus Angst, ihn zu provozieren. Nur bei der „Tonight‘s The Night"-Tour fühlte der sensible Künstler sich frei von äußeren Einflüssen und spielte hochemotionale Konzerte.
Für Verschwörungstheoretiker ist „Tonight‘s The Night" nicht weniger als ein böses Omen. Auf der Hülle des Lynryd-Skynyrd-Albums „Street Survivors" ist deren Sänger Ronnie Van Zandt mit einem „Tonight‘s The Night"-T-Shirt abgebildet. Kurz nach der Aufnahme des Coverfotos kam er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Neil Young jedenfalls ist auch im Rentenalter ein kreativer Ruhestörer geblieben. „Die Welt wird erst von meinem Ruhestand erfahren, wenn ich tot bin", verspricht er. Im Moment ist er jedoch nicht bereit, zu touren. „Ich höre auf ein komisches Gefühl in meinem Körper, das einfach ‚Nein‘ sagt. Es wird ‚Ja‘ sagen, wenn ich bereit bin."