In Brandenburg entsteht an der Wasserstraße zur Ostsee ein gigantisches Schiffshebewerk, doch sein Nutzen ist umstritten. Der Güterverkehr ist rückläufig. Bleibt die Hoffnung auf mehr Zusammenarbeit mit Polen.
Bei Eberswalde, zirka 60 Kilometer nordöstlich von Berlin, entsteht ein Kuriosum der Ingenieurskunst: das neue Schiffshebewerk Niederfinow, eine Art Fahrstuhl für Schiffe, die auf der Havel-Oder-Wasserstraße verkehren. Dieser Wasserweg ist das zentrale Teilstück der Verkehrsverbindung für Schiffe zwischen der Ostsee und Berlin. In einem riesigen Wassertrog überwinden die Schiffe samt Passagieren, Besatzung und tonnenschwerer Fracht einen 36 Meter hohen Geländesprung in nur drei Minuten. Nach einer Bauzeit von neun Jahren lässt die Eröffnung immer noch auf sich warten. Möglicherweise könnte es im Spätsommer dieses Jahres der Fall sein. Dann kann der 55 Meter hohe und über 130 Meter lange Koloss aus Beton und Stahl seinen Betrieb aufnehmen. Das bestehende Schiffshebewerk aus den 30er-Jahren, das die Auszeichnung „historisches Wahrzeichen deutscher Ingenieurskunst in Deutschland" trägt, würde dann nach 80-jähriger Dienstzeit in den Ruhestand gehen.
Mit einem Budget von 300 Millionen Euro ist das neue Schiffshebewerk Niederfinow einer der größten Wasserverkehrsbauten der Nachkriegszeit. Mit dem Ersatzbau einher geht eine Erweiterung der Schleusenkapazität. In Zukunft können nämlich bis zu 110 Meter lange Frachtschiffe, sogenannte Großmotorgüterschiffe, das neue Hebewerk durchfahren. Somit wird das größte Nadelöhr auf dem Wasserweg zwischen dem Stettiner Hafen in Polen und Berlin beseitigt sein. Heute ist die Durchfahrt nur für Schiffe mit einer maximalen Länge von 83 Metern möglich. Da sich auch die maximale Ladehöhe verbessern wird, können künftig auch doppellagig beladene Containerschiffe das Schiffshebewerk passieren.
Die neue Anlage hätte bereits 2014 in Betrieb gehen sollen. Doch die Inbetriebnahme verzögerte sich – ähnlich wie bei anderen Großprojekten – Jahr um Jahr. Die Projektverantwortlichen begründen die Bauverzögerung unter anderem mit Planungsänderungen und aufwendigen Genehmigungsverfahren. Trotzdem werde der Kostenrahmen aber eingehalten, heißt es beim Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur.
Der Kostenrahmen wird eingehalten
Das neue Schiffshebewerk ist für die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV) ein Leuchtturmprojekt. Große Hoffnungen ruhen auf dem Bauwerk, das als eine Art entwicklungspolitisches Potenzmittel für die Region angepriesen wird: Industrie und Gewerbe würden sich an den Ufern der Havel-Oder-Wasserstraße ansiedeln und neue Jobs schaffen. Nach Einschätzung eines externen Gutachtens von 2008, das vom Bundesverkehrsministerium in Auftrag gegeben wurde, ist das neue Schiffshebewerk eine Investition, die sich wirtschaftlich rechnet. Das Gutachten basierte unter anderem auf der Annahme einer Zunahme des Transportvolumens, und zwar um fast 40 Prozent zwischen 2004 und 2025. Diese Prognose hat sich jedoch als falsch erwiesen. In den letzten zehn Jahren brach der Güterverkehr am Schiffshebewerk regelrecht ein: Zwischen 2005 und 2015 halbierte sich die jährliche durchgeschleuste Gütermenge, von 2,6 Millionen Tonnen auf 1,3 Millionen Tonnen. Der Rückgang ist vor allem auf die geringere Nachfrage der Berliner Kraftwerke nach polnischer Steinkohle zurückzuführen. Die negative Entwicklung ist nicht ganz überraschend, gab es doch schon in der Planungsphase für den Bau des neuen Hebewerks Stimmen, die auf einen möglichen Rückgang der Gütermengen hinwiesen.
In den vergangenen 20 Jahren sind schätzungsweise 500 bis 600 Millionen Euro in die Grundinstandsetzung und Modernisierung der Havel-Oder-Wasserstraße geflossen: Das Gewässerbett wurde vertieft, Dämme und Brücken erhöht. Mit diesen Maßnahmen sind die Bedingungen für einen wirtschaftlichen Containertransport auf der Strecke Berlin–Stettin erheblich verbessert worden. Dem neuen Schiffshebewerk kommt dabei eine Schlüsselrolle zu: Nach Inbetriebnahme des Hebewerks können große Güterschiffe mit bis zu 100 Standardcontainern Ladung, statt heute 27 Containern, die Strecke befahren.
Zusätzlich sind in ganz Brandenburg öffentliche Binnenhäfen und Werkshäfen von Firmen modernisiert oder neu gebaut worden, beispielsweise in Eberswalde und Schwedt. Das Land hat den Neubau und die Modernisierung der elf öffentlichen Binnenhäfen mit rund 100 Millionen Euro Fördermittel mitfinanziert. Ob all diese Maßnahmen geeignet sind, um den Bedeutungsverlust der Binnenschifffahrt in Brandenburg zu stoppen, ist fraglich. Die Menge an Gütern, die in den brandenburgischen Binnenhäfen umgeschlagen werden, ist seit 1993 um nicht weniger als ein Viertel zurückgegangen. Der prozentuale Rückgang fiel deutlich stärker aus als im gesamtdeutschen Vergleich (minus acht Prozent).
Im Vergleich mit der transportstärksten Region Deutschlands, dem Rheingebiet, ist der Güterumschlag in Brandenburgs Binnenhäfen relativ gering. Auch das von der Landesregierung erklärte Ziel einer Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf das Wasser ist trotz Ausbau und Modernisierung nicht erreicht worden. In den vergangenen zehn Jahren blieb der Anteil der Binnenschifffahrt an der gesamten Gütermenge, die in Brandenburg umgeschlagen wurde, ungefähr konstant. Nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes lag der Anteil 2015 unter zwei Prozent.
Ein Schiff ersetzt 150 Lastwagen
Angesichts der rückläufigen Entwicklung im Transport von Massengütern stellt sich die Frage, wie hoch der Bedarf an größeren Schiffen auf dieser Strecke tatsächlich ist, zumal im Zuge der Energiewende die Nachfrage nach polnischer Steinkohle in Zukunft noch weiter zurückgehen dürfte. Klar ist, dass auch nach Inbetriebnahme des neuen Hebewerks die Havel-Oder-Wasserstraße von großen Güterschiffen nicht komplett befahren werden kann. Denn für eine durchgehende Befahrung des 135 Kilometer langen Kanals wäre durchgehend eine Wassertiefe von vier Metern notwendig. Bisher ist die Wasserstraße lediglich auf einer Länge von 20 Kilometern tief genug. Es besteht deshalb die Gefahr, dass die positiven Effekte der millionenteuren Investition in die Infrastruktur zwischen Ostsee und Berlin verpuffen könnten.
Die Förderer der Binnenschifffahrt werden derweil nicht müde, die Bedeutung der Wasserstraßen für die wirtschaftliche Entwicklung der Region zu betonen. Die Schifffahrt sei kostengünstig, leistungsstark und klimaschonend, lauten die üblichen Argumente. Ein modernes Binnenfrachtschiff könne bis zu 150 Lastwagen auf der Straße ersetzen. Die Industrie sei zudem auf leistungsfähige Wasserstraßen angewiesen. „Der gegenwärtige Ausbauzustand der Havel-Oder-Wasserstraße schränkt einen wirtschaftlichen Gütertransport vom Seehafen Stettin nach Berlin deutlich ein", sagt Gerhard Ostwald, Vorsitzender des Vereins zur Förderung des Stromgebietes Oder/Havel.
„Die Situation ist unbefriedigend", sagt auch Felix Lösch, Geschäftsführer von Leipa-Logistik. Die Papierwerke der Leipa-Gruppe beschäftigen zusammen mit der Leipa-Logistik in Schwedt rund 1.000 Mitarbeiter. „Wegen der zahlreichen Engpässe ist ein wirtschaftlicher Transport von Papier auf dem Wasser ab Schwedt heute nicht möglich", so Felix Lösch. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Martin Bock, Geschäftsführer der im Agrarsektor tätigen Handelsgesellschaft FGL in Fürstenwalde/Spree. Er fordert den Ausbau der rund hundert Jahre alten Schleuse Fürstenwalde im Oder-Spree-Kanal. „Würde die Schleuse ausgebaut, könnten wir die Gütermenge, die wir jährlich in Fürstenwalde umschlagen, verdoppeln."
Die brandenburgische Landesregierung drängt deshalb auf einen weiteren Ausbau der Wasserstraßen. „Wir setzen uns seit Jahren dafür ein, dass das Bundesministerium für Verkehr den Ausbau der Wasserstraßen vorantreibt", heißt es aus dem Brandenburger Ministerium für Infrastruktur und Landesplanung. Dass der Ausbau der Havel-Oder-Wasserstraße im Bundesverkehrswegeplan 2030, der im vergangenen Jahr verabschiedet worden ist, den Status als vordringliches Projekt erhalten habe, sei ein Resultat dieser Bemühungen. Im Bundesverkehrswegeplan sind für den weiteren Ausbau der Strecke immerhin 500 Millionen Euro vorgesehen.
Transport von Schwergütern
Dass ein Ausbau der Kapazitäten tatsächlich zu einer wesentlichen Ausweitung der Transportmengen und gleichzeitig zu einer Ansiedlung von Unternehmen und neuen Arbeitsplätzen führen wird, ist aus heutiger Sicht jedoch Spekulation. „Da ist viel Wunschdenken im Spiel", sagt Jan Ninnemann, Professor für Logistik an der Hamburg Business School of Administration. Wie stark die Wasserstraßen genutzt würden, sei von vielen Faktoren abhängig, nicht zuletzt von der verfügbaren Flotte und der Entwicklung im Bereich der übrigen Verkehrsträger.
„Es braucht ein schlüssiges Güterverkehrskonzept. Ein solches Konzept kann ich nicht erkennen", sagt Thomas Decker. Er ist Professor für Transport- und Verkehrslogistik an der Rheinischen Fachhochschule Köln/Neuss. Insbesondere der Mittellandkanal, die längste Wasserstraße Deutschlands, habe nach wie vor zahlreiche Engstellen, gibt er zu bedenken. Deshalb könne diese wichtige Wasserstraße, die den Rhein durch den Rhein-Herne-Kanal und den Dortmund-Ems-Kanal mit der Ems, der Weser, der Elbe und weiter über brandenburgische Flüsse und Seen bis hin zur Oder verbindet, keine entlastende Funktion übernehmen, sagt Thomas Decker. Zu einer substanziellen Verlagerung der Transportmenge von der Straße aufs Wasser werde es deshalb in absehbarer Frist nicht kommen.
Sind die Tage des Massenguttransports auf dem Wasser zwischen Stettin und Berlin gezählt?
In der Region setzt man nach wie vor große Hoffnungen in die Zukunft der Containerschifffahrt und in den Transport von Schwergütern, beispielsweise von Turbinen, Windkraftanlagen oder Transformatoren, die häufig aufgrund der großen Masse oder des hohen Gewichts nur auf dem Schiff transportiert werden können.
In Ostbrandenburg gibt es kaum Zweifel daran, dass die Bedeutung der Havel-Oder-Wasserstraße im Zuge der Bildung transeuropäischer Netze und vor allem in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Polen wieder wachsen wird. „Die Wasserstraßen in Brandenburg haben eine Zukunft", ist Gerhard Ostwald überzeugt.