In diesem Jahr wird die baltische Republik 100 Jahre alt. Anlässlich des großen Jubiläums gibt es zahlreiche Veranstaltungen, vor allem in der Hauptstadt Riga, die allein schon eine Reise wert ist.
Mal nachdenklich, mal mit überschäumender Fröhlichkeit wird in Lettland das 100-jährige Jubiläum gefeiert, vor allem aber mit Musik und Tanz. Das Beste an Kultur, Lifestyle und Neuheiten möchten die Letten den Besuchern aus aller Welt zeigen, ihre Geschichte präsentieren und ihre Innovationen für die nächsten 100 Jahre. Etwa 60 Millionen Euro steckt das kleine Land, ein Zeichen setzend, in diese Feierlichkeiten.
Der viertägige Auftakt im Januar – in der National-Bibliothek in der Hauptstadt Riga – ließ bereits aufhorchen. Dieser elegant geschwungene „Bücherpalast" am Fluss Daugava (Düna) widmet sich im Gesamtjahr der 500-jährigen Geschichte des Buchdrucks. Bücher haben Macht, so weiß man im lesefreudigen Lettland.
„Diese Bibliothek ist unser Licht, unsere Stärke, unser Gedächtnis und unsere Freiheit", lautete es zur ihrer Eröffnung im Jahr 2014. Sie gilt als der bedeutendste Kulturbau seit der Gründung der Republik Lettland am 18. November 1918 und ist eines der letzten Werke des in Riga geborenen US-Architekten Gunnars Birkerts, der am 15. August 2017 im Alter von 92 Jahren starb. Er galt als Meister des Lichts, und das haben die Letten sogleich erkannt. Daher nennen sie ihre National Bibliothek „das Lichtschloss". Der silbrige Bau leuchtet übers Wasser, und auch die geräumige Eingangshalle wirkt einladend hell.
„Für ihre National-Bibliothek haben die lettischen Steuerzahler 240 Millionen Euro aufgebracht", sagt Kommunikationschefin Anna Muhka in perfektem Deutsch. Auch haben sie am 18. Januar 2014 bei minus 18 Grad stundenlang auf der Akmens-Brücke gestanden und die zuvor an mehreren Stellen untergebrachten Bücher von Hand zu Hand weitergereicht. „15.000 Menschen hatten sich angemeldet, rund 30.000 sind gekommen", erinnert sich Anna.
Verbotene Lieder wurden zur „Singenden Revolution"
Voller Stolz weist sie auf ein gut gesichertes Schränkchen mit vielen Schubläden. Das simple Möbel ist der Daina-Schrank, der größte Schatz der National-Bibliothek und ganz Lettlands. Dainas heißen die uralten lettischen Volkslieder, die vor allem der Astronom und Schriftsteller Krišjānis Barons gesammelt und von 1894 bis 1915 veröffentlicht hat, insgesamt 217.996 Vierzeiler, „notiert auf dünnem Zigarettenpapier", erklärt Anna. Im Jahr 2008 wurden die Dainas sowie die ähnlich alten Lieder Estlands und Litauens von der Unesco in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes aufgenommen.
Mit diesen in der Sowjetzeit (1940-1990) verbotenen Liedern haben alle drei baltischen Staaten am 23. August 1989 ihre 50 Jahre lang unterdrückte Freiheit besungen, genau zum 50. Jubiläum des 1939 heimlich geschlossenen Hitler-Stalin-Paktes. Als „Singende Revolution" ist dieses Ereignis in die Geschichte eingegangen, genau wie der gleichzeitige „Baltische Weg". Von Vilnius in Litauen über Riga in Lettland bis nach Tallinn in Estland fassten sich die Bewohner an den Händen und bildeten mutig eine mehr als 600 Kilometer lange Menschenkette. Sie haben getanzt und ihre alten Verse gesungen.
Nach der Unabhängigkeitserklärung am 20. August 1991 wurden die traditionellen Gesangs- und Tanzfestivals wieder aufgenommen. Sie finden in den drei baltischen Staaten alle fünf Jahre, jedoch nicht gleichzeitig statt. Lettland hat Datumsglück und ist 2018 mit seinem 26. Fest (seit 1873) an der Reihe.
Dieses Gesangs- und Tanzfestival, das vom 30. Juni bis zum 9. Juli in Riga stattfindet, wird der absolute Höhepunkt im Geburtstagsjahr. 13.000 Sänger und ebenso viele Tänzer in ihren bunten Trachten werden die Menschen im deutlich vergrößerten Daugava-Stadion begeistern. Die Tickets für dieses Super-Event waren innerhalb von vier Stunden ausverkauft.
Wer keines ergattert hat, sollte sich dennoch nicht grämen. Schon die Parade der Sänger und Instrumentalisten am 1. Juli von 14 bis 22 Uhr durch die Altstadt bedeutet Emotion pur. Darüber hinaus ranken sich rund ums Festival 63 farbenprächtige Veranstaltungen. Zwei Drittel davon sind gratis, sogar im Hauptzeitraum.
Musik erklingt dann an allen Tagen und allerorten, auch in den Kirchen. Bereits am 30. Juni um 22 Uhr kann man einem kostenlosen Chor-Wettstreit lauschen, am 2. Juli von 11 bis 22 Uhr weiteren Gesangswettbewerben. Überdies locken Theateraufführungen, Filmserien und Ausstellungen. In Riga finden alle das Ihre, auch beim Lichtfest im November. Den Schlusspunkt setzt der 18. November, der eigentliche Jubiläumstag. Geplant ist eine erneute Parade aller Sänger und Tänzer durch Rigas Altstadt und am Abend ein Schlusskonzert mit dem Titel „Der Weg der Sterne".
Wuchtiger Backstein-Dom von 1211
Doch nicht nur all diese Veranstaltungen sind eine Reise wert. Riga – im Jahr 1201 von Bischof Albrecht von Buxthoeven gegründet – ist eine schöne, sichere und gastfreundliche Stadt. Die langen hellen Sommernächte sind eine besondere Attraktion. Die per Fahrstuhl erreichbare 72 Meter hoch gelegene Aussichtsplattform am Turm der St. Petrikirche bringt sogleich einen Überblick.
In der Nähe des wuchtigen Backstein-Doms von 1211, das größte Gotteshaus im gesamten Baltikum. Der Klang seiner riesigen, 1884 in Ludwigsburg gebauten Orgel schwebt während der Piccolo-Mittagskonzerte über den weitläufigen Domplatz vorbei an farbenfrohen Häusern zu den Openair-Restaurants, wo die Menschen gerne die warme Sonne und gutes Essen genießen.
Ein Bummel durch die Gassen der fein restaurierten Altstadt, die schon seit 1997 zum Unesco-Weltkulturerbe zählt, ist genauso vergnüglich. Ein „Hallo" verdienen die „drei Brüder", ein mittelalterliches Häusertrio nahe der Jakobi-Kathedrale von 1225, die auf ihre Art „Karriere" machte. Aus dem anfangs katholischen Gotteshaus wurde von 1523 bis 1582 die erste lutherische Kirche Rigas, danach eine Jesuitenkirche, ein russisches Gotteshaus und zu Napoleons Zeiten ein Lebensmittellager. Seit 1923 ist sie Rigas katholische Kathedrale und Bischofssitz.
Eines fällt allenthalben auf: Die geschichtsbewussten Letten bewahren auch das deutsche Erbe, das diese einst reiche Hansestadt nach wie vor prägt. Das beste Beispiel bietet ein exquisites Häuserpaar auf dem Rathausplatz, das kleinere Schwabe-Haus links und das aufwendigere Schwarzhäupterhaus rechts.
Über der astronomischen Uhr sind in goldenen Lettern auf blauem Grund die Baudaten zu lesen: 1334 und 1999. Demnach wurde der Doppelbau 1334 errichtet – als Treffpunkt unverheirateter, zumeist deutscher Kaufleute. Nach Zerstörung und Abriss im und nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Letten von 1993 bis 1999 beide Häuser originalgetreu wieder aufgebaut, mehr als pünktlich zu Rigas 800-Jahr-Feier im Jahr 2001.
Und bitte bloß nicht Rigas berühmtes, fein restauriertes Jugendstil-Viertel versäumen! Welch prächtige, üppig dekorierte Häuser, errichtet zumeist zwischen 1901 und 1908 in der Elizabetes iela und der Alberta iela (iela bedeutet Straße). Girlanden und Gitterwerk, Fabeltiere und Fantasie-Kapitelle. Am tollsten trieb es Michael Eisenstein, der Vater des Filmregisseurs Sergej Eisenstein. Zarte Gesichter und böse Fratzen blicken auf die verblüfften Betrachter.
Der Kontrast findet sich jenseits der Daugava in Alt-Riga, wo die weniger Betuchten noch oft in schlichten, landestypischen Holzbauten leben. Seit einigen Jahren wird diese Stadthälfte wiederentdeckt. Das Kalnciema-Viertel ist sogar zum Hit geworden, vor allem der Samstagsmarkt, auf dem die Bauern ihre Produkte und Hobby-Künstler gutes Kunsthandwerk offerieren.
Insider kommen mit leeren Mägen und großen Taschen dorthin, und Ähnliches empfiehlt sich auch beim Besuch des Zentralmarkts von 1930, ebenfalls ein Unesco-Weltkulturerbe. In den Hallen pulsiert das echte lettische Leben, sie sind der richtige Ort zum Schauen, Kosten und Einkaufen.
Wer mehr Zeit eingeplant hat, kann zum Baden nach Jurmala fahren, sich dort am 26 Kilometer langen Sandstrand vergnügen und abends vielleicht Musik im historischen Dzintaru Konzertsaal (erbaut 1936) hören. Die Letten, die landesweit in Schulchören aufwachsen und frühzeitig Instrumente spielen, lieben Musik und erfüllen sich manchmal einen lang gehegten Traum, wie 2015 die Küstenstadt Liepaja.
Lettland will sich im weltweiten Gedächtnis verankern
Dort haben sich die nur 70.000 Einwohner vom österreichischen Architekten Volker Giencke ein stattliches modernes Konzerthaus namens Great Amber (Großer Bernstein), planen und bauen lassen, optisch und akustisch ein wahres Schmuckstück mit vielseitigen Möglichkeiten und ständigen Veranstaltungen. Zu Lettlands 100. gibt es auch dort besondere Aufführungen, unter anderem ein Kino-Konzert am 2. November.
Mit dem Jahresende ist überdies nirgendwo Schluss. Nach rund 800 Projektideen in Lettland und in 70 Staaten wird es weitere Veranstaltungen bis ins Jahr 2021 geben. Lettland will sich im weltweiten Gedächtnis verankern und setzt, seit 2004 EU-Mitglied, vor allem auf Europa. Eine internationale Experten-Konferenz am 7. Mai mit dem Titel „Europa. Vor und nach 100 Jahren" soll – nach Erkenntnissen aus der Geschichte – Ideen für ein friedliches, demokratisches und wirtschaftlich starkes Europa entwickeln.