Berlins ältestes Kellertheater feiert im nächsten Jahr sein 70-jähriges Bestehen. Die Vagantenbühne inszeniert Klassiker und Zeitgenössisches, ohne sich an Trends anzubiedern. Und nimmt das Publikum auch schon mal mit auf einen Theater-Parcours.
Es dauert exakt 90 Minuten, und es läuft seit fast 20 Jahren – das Erfolgsstück der Vagantenbühne „Shakespeares sämtliche Werke". Wie das geht, sollte sich jeder selbst anschauen. Aber dass es funktioniert, das sei jedem Skeptiker versichert. Auch wenn mal eine rote Pappnase, ein Knochengespenst aus Papier, ein Fanschal von Hertha BSC und ein abgeschlagener Kopf ins Spiel kommen. Den Fanschal brauchen die Schauspieler, weil die Königsdramen im Stil eines Fußballspiels vorbeirauschen. Der Kopf gehört zu „Titus Andronicus", das Papiergespenst zu „Hamlet" und die Pappnase wird öfter gebraucht. Lady Macbeth schwingt die Peitsche, um ihren Gatten, den sie „Donald" nennt, zu seinen Untaten anzustacheln. Für den „Hamlet" teilt sich das Publikum in „Ich", „Es" und „Über-Ich". Und Othello wird gerappt. So viel zu den erstaunlichen Einfällen, die man braucht, wenn man so ein Vorhaben stemmen will – der „ganze Shakespeare" eben in 90 Minuten. Pünktlich zum 20. Jahrestag wird es eine Benefizvorstellung für die Obdachlosenhilfe geben. Die Regie geht übrigens zurück auf den Schauspieler Andreas Schmitz („Sommer vorm Balkon"), der im vergangenen Jahr im Alter von 53 Jahren gestorben ist.
Wir sind in der Vagantenbühne, einem Theater, das über 65 Spielzeiten hinter sich hat und im nächsten Jahr seinen 70. Geburtstag feiert. Das älteste Privattheater Berlins, wie Intendant Jens-Peter Behrend stolz betont. Er übernahm 1979 zusammen mit seinem Bruder das Haus. Der Vater, Horst Behrend, stammte aus einer Pommerschen Theaterfamilie, der Urgroßvater war einmal der Direktor des Schauspiels Kolberg.
Horst Behrend hatte sich im Nachkriegsdeutschland mit einer Gruppe von Schauspielern zusammen getan, die zu keiner festen Spielstätte gehörten. Also nannten sie sich „Vaganten" – wie die mittelalterlichen Schauspieler, die von den Universitäten kamen und mit ihren Stücken über die Marktplätze zogen. Erst 1956 bot sich der Schauspieltruppe das Souterrain des Delphi-Hauses als feste Spielstätte an, hinter dem Bahnhof Zoo und nicht weit vom Kudamm entfernt. Den Namen behielten sie einfach bei. Heute teilt sich die kleine Bühne mit 100 Sitzplätzen das Haus mit dem Delphi-Filmpalast, dem Jazzclub Quasimodo und dem Qmodo Restaurant.
„Damals allerdings war das alles noch sehr baufällig", erinnert sich Jens-Peter Behrend. „Im Delphi gab es noch kein Kino, sondern einen Tanzsaal mit Bewirtung – und die Küche, die war halt hier, wo wir heute spielen." Davon sieht man natürlich längst nichts mehr. Denn die Räume wurden mehrfach umgebaut, renoviert, mit Technik – Klimaanlage, Ton und Licht – ausgestattet. Lottomittel halfen dabei, auch Zuschüsse des Senats. Die Vagantenbühne bekommt 40 Prozent ihres Etats aus öffentlichen Mitteln.
In den 1950er-Jahren war die Vagantenbühne das Avantgardetheater in West-Berlin. „Damals gab es noch nicht so viele kleine, selbstständige Bühnen wie heute", meint Behrend. „Wir hatten sozusagen ein Alleinstellungsmerkmal."
Für seinen Vater, den Gründer des Theaters, kamen weder Boulevard noch Klamauk und Kabarett in Frage – er setzte auf Aufklärung. Und die Bühne spielte sich durch alle Stilepochen: Es begann mit dem expressionistischen Nachkriegstheater, dann folgte der Existentialismus mit Stücken von Jean-Paul Sartre und Albert Camus, später das Theater des Absurden mit Eugène Ionescu und Samuel Beckett. „In den 1950er- und 60er-Jahren waren wir fast immer ausverkauft", erinnert sich der Intendant.
Vor dem Mauerbau seien die Zuschauer auch aus Ost-Berlin gekommen, ebenso wie einige Schauspieler. Die beiden größten Erfolge der 60er- und 70er-Jahre waren Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür" (über 1.000 Aufführungen), das unter anderem auch in der Gedächtniskirche gespielt wurde, und Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter". Klassische Stücke wie „Antigone" oder Büchners „Woyzeck" ergänzten den Spielplan.
Früher Küche, heute Theaterbühne
„Theater ist nie gestern", schreibt Jens-Peter Behrend in einem historischen Rückblick. Er hält nichts davon, jeder scheinbar neuen Theaterform gleich eine Überschrift verpassen zu müssen. Und so wehrt er sich auch gegen Versuche, hauseigene Produktionen wie „4 Boat People" oder „Gelber Mond" als „post-migrantisches Theater" zu labeln. Denn sei „Gelber Mond" nicht einfach ein Stück, in dem ein notorischer Schulschwänzer und eine muslimische Schülerin aus ihrer engen Welt ausbrechen? Oder „The Mountaintop", ein Stück über den Engel, der Martin Luther King am Vorabend seiner Ermordung auf sein irdisches Ende vorbereitet – sei das Polittheater oder „nur" ein fesselnder Text über die Bürgerrechtsbewegung in den USA?
Aktuell auf dem Programm stehen unter anderem Vicki Baums „Menschen im Hotel" – ein gemeinsames Theaterprojekt mit dem benachbarten Hotel Savoy. Die Zuschauer werden in vier Räume des Hotels mitgenommen, wo sie den Figuren des Stückes begegnen. Das Finale spielt im Dachgarten des Savoy. Ein anderes Beispiel, wie das Theater sein Umfeld in die Inszenierung einbezieht: Heinrich Manns „Der Untertan" in der Regie von Lars Georg Vogel. Der Abend beginnt vor dem wilhelminischen Prachtbau des Theaters des Westens und führt die Zuschauer über die legendäre Kaisertreppe zum Delphi-Haus, der Theaterparcours endet schließlich im Vagantenkeller.
„Letzten Endes basiert unser Spielplankonzept auf drei Grundzügen", fasst Theaterchef Behrend zusammen. „Anspruchsvolle, unterhaltsame Stücke und Komödien, Werke der klassischen Moderne sowie zeitkritische und sozialrealistische Stücke zeitgenössischer Autoren."
Die Vaganten – das sind heute 25 Schauspieler mit Verträgen für einzelne Produktionen, dazu kommen noch einmal zehn bis zwölf freie Mitarbeiter für Technik, Bühne, Theaterkasse und Gastronomie. Fest anstellen kann das Theater keinen. „Wir sind froh, dass es in Berlin so viele freie Schauspieler gibt, die statt vor der Fernsehkamera in einer kurzen Rolle auch mal einen Abend lang auf der Bühne direkt für ihr Publikum spielen wollen", sagt Behrend.
Um hinzuzufügen, dass es immer schwerer werde, ein jüngeres Publikum ins Theater zu locken. Einerseits sei die Konkurrenz größer – vom „Grips-Theater" über „Atze" bis hin zum „Theater an der Parkaue". Andererseits hätten die Schüler angesichts vollgestopfter Lehrpläne immer weniger Zeit, sich mit einem Stück intensiv auseinanderzusetzen.
Auch das extra eingeführte Schülerticket für sieben Euro habe die Zahlen jüngerer Besucher nicht merklich ansteigen lassen. Mit moderaten Preisen für die „normalen Tickets" liegt das Theater kaum über denen für eine Kinokarte – und so hat sich die Bühne über die Jahre hinweg ein Stammpublikum erspielt, das zum großen Teil auch den Förderverein trägt. „Rund zehn Prozent sind Touristen oder Laufkundschaft", sagt Behrend. „Aber immerhin haben wir im Schnitt eine Auslastung von 70 Prozent."
Die nächste Spielzeit steht in Umrissen fest. „Michael Kohlhaas" soll als Bühnenstück kommen und ein weiterer Heinrich-Mann-Roman – die Vaganten inszenieren dann „Professor Unrat".