Das „Bricole" im Prenzlauer Berg bietet eine Auswahl an mittelgroßen Gerichten, die die Gäste gleichrangig kombinieren können, fernab vom durchdeklinierten Menü. Die Devise: Geteilte Tafelfreuden sind doppelte Tafelfreuden!
Tyrannen gibt’s ohnehin zu viele. Die müssen nicht noch die Herrschaft über die Essteller übernehmen. Sagten sich Fabian Fischer und Steven Zeidler und schafften fürderhin die „Tyrannei der richtigen Speisenfolge" und die Fokussierung auf die Hauptgänge in ihrem Restaurant „Bricole" ab. Inhaber und Küchenchef erweisen sich als waschechte Demokraten, die ihren Gerichten die gleiche Größe und Bedeutung zumessen.
„Wir machen eine Karte, aus der man nach Lust und Laune auswählen und kombinieren kann", sagt Fischer. Das kann auf der Tischseite des begleitenden Fotografen etwa ein gebackener Ziegenkäse mit Fenchel, Tomaten-Chutney und Haselnusscreme sein. Und auf meiner ein Gänseleber-Parfait mit Zwiebelmarmelade, Steckrübe und Apfel. Oder später in der Mitte des Tisches ein geflämmter Steinbutt auf grünem Spargelsalat mit Joghurtperlen „in Hüttenkäse-Optik", wie der Fotograf anmerkt. Wir machen uns beide mit Gabeln und auch mit unseren Löffeln darüber her, denn die aus Steinbutt-Karkassen gewonnene Consommé ruft entschieden: „Iss mich auf!"
Nun sind x-gängige Menüs mit allem Drum und Dran vom Amuse-Gueule über Sorbets bis zu Pralinés im umtriebigen Leben des 21. Jahrhunderts ohnehin eher dem besonderen Anlass, dem gut gefüllten Geldbeutel und einem sehr langen Abend vorbehalten. Auch Adelspaläste wie im 19. Jahrhundert mit Bankettsälen, Bediensteten und Tafelaufsätzen sind nicht die Orte, an denen üblicherweise gespeist wird. Vielmehr müssen nach der Arbeit noch ein Glas Wein und ein nicht allzu schweres Essen unkompliziert auf den Tisch kommen, Raum für gute Gespräche und Genuss bleiben. Dafür ist das hellgrau gehaltene und mit geweißelten Baumscheiben so gar nicht rustikal akzentuierte 30-Plätze-Lokal im Prenzlauer Berg genau der richtige Ort. Ein Druck von einem Banksy-Wandbild mit Gitterfenster und dem Schriftzug „Life is beautiful" sowie ein überdimensionaler pinkfarbener Lippenstift in goldener Hülle geben überm Tresen die Richtung vor.
Für alle „Darf ich mal…?"-Probierer, die bereits beim Fragen ihre Gabel in Richtung fremder Teller ausgestreckt halten, ist das „Bricole besonders attraktiv. Wir betreiben das Kreuz- und Quer-Probieren ohnehin von Berufs wegen. Ich bin neugierig auf das Ziegenkäse-Frittaten-Häppchen mit begleitender grüner Koralle. Letztere entpuppt sich als Honig-Biskuit aus feinem Schwammteig, der die Süße zum Ziegenkäse in unerwarteter Gestalt hinzufügt. Schöne Sache! Der Fotograf und ich befinden gleichermaßen, dass das Gänseleber-Parfait mit Zwiebelmarmelade, Steckrübe und Apfel sofort aufgegessen werden muss. Davon hätten wir sogar eine größere Portion vernascht: Die Kühle tut der Gänseleber gut, Süße und Säure sowie die Rübencreme lassen sich nach Belieben dazugabeln und mischen. Wir ehren das Parfait mit einem „Juwel" und zwar einem von Winzerin Juliane Eller. Der 2017er-Grauburgunder ist so schön „crispy, saftig und frisch", wie von Fabian Fischer angekündigt. Wir bleiben dabei, während die acht Teller unseres abendlichen Mahls aufgetragen werden.
„Qualität geht stets vor Quantität"
Dürfen wir überhaupt noch Menü sagen? Aber sicher doch. Fabian Fischer sieht das keineswegs streng. Es stehen sogar „Tasting-Menüs" mit jeweils vier Tellern in zwei Varianten für 32 und 34 Euro auf der Karte. „Wir geben damit eine Orientierungshilfe", sagt er. „Wir bieten die Teller als Menü an, aber eigentlich ist es gar keines." Wenn es eine verbale und chronologische Leitplanke braucht –
auch gut. Zu guter Letzt kommt doch dasselbe dabei heraus: erfahrungsgemäß der Verzehr von zwei bis vier Gerichten und die spätestens danach einsetzende große Sättigung. Die einzelnen Teller kosten zwischen acht und 12,50 Euro; für letzteres liegt dann schon ein Stück Rumpsteak mit Erbsentarte, Nussbutter-Espuma und Jus darauf. Die mit dem französischen Begriff „Horsd’Œeuvre" getarnten „Kleinigkeiten" – das bedeutet „Bricole" auf Französisch – sind in einer angenehmen Größe zwischen klassischer Vorspeise und Hauptgericht gehalten. Der Wein, gerne aus Deutschland, aber auch ein wenig aus Italien, wird ebenfalls in einer Zwischengröße, in 0,15-Liter-Einheiten, ausgeschenkt. „Das passt zur Größe unserer Gänge", sagt Fischer.
„Wir möchten, dass sich jeder hier wohlfühlt, und wir sind auf dem richtigen Weg", sagt Fischer nach gut eineinviertel Jahren „Bricole". Er kam zum BWL-Studium nach Berlin, arbeitete nebenbei in der Gastronomie, immer im Service. Stationen waren das „Borchardt", das „Café am Neuen See", „Reinhards Kempinski" und das „Grosz". Von der Konzeptidee bis zur Eröffnung des „Bricole" am 1. Februar 2017 habe es tatsächlich nur neun Monate gedauert, sagt er: „Wir fanden die Immobilie, haben vier Wochen renoviert, eröffnet und los ging’s."
Langes Zuwarten und Rumpusseln bei geschlossenen Türen war nicht drin – zumal die Nachbarn im Kiez nahe dem Helmholtzplatz neugierig hineinlugten. „Wir mussten halt auch mal was einnehmen. Es hat immer alles irgendwie gepasst und funktioniert." Was an Geld hereinkam, wurde reinvestiert – in Personal und Küchengeräte, die Weinkarte wurde aufgestockt. Fischer weiß: „So ein Restaurant ist ständig im Wandel. Bis es sich gefunden hat, dauert es sicher länger als zwei Jahre." Der Status im Frühling 2018: Es gibt mitteleuropäische, leichte „Freistil-Küche" von Steven Zeidler, durchaus mit Gourmet-Ambition. Dazu den herzlichen und zugewandten Service vom Chef persönlich, bei dem das Weiterbestellen Spaß macht. „Qualität geht immer vor Quantität", sagt Fischer. „Das ist bei uns Standard und eigentlich gar nicht extra erwähnenswert."
Der Küchenchef bringt mit seinem Team saisonal und regional verfügbare Produkte spielerisch in eine immer neue Ordnung und in unerwarteten Kombinationen auf die Teller. So wie den Heilbutt auf schwarzen Kichererbsen. Neben dem Schwarz-Weiß-Kontrast überrascht die mehlig-erdige Konsistenz der Kichererbsen zum zarten Fisch und zu dem durch Krustentierschaum verdoppelten meerigen Touch. Ein kleiner geschmorter Fenchel wartet zusätzlich mit Grünweiß und Anishauch auf.
Auch die Nase wird verwöhnt
Der Fotograf und ich wiederum warten neugierig darauf, die Teller hin- und herzureichen, um ebenfalls das Filet vom Ibérico-Schwein mit gelber Bete und Auberginen zu kosten. „Tupfenküche!", rufe ich entzückt, als ich die dicken, teils doppelstöckigen, behäbigen Punkte aus den Gemüsecremes sehe. Gerechterweise gibt es zwölf davon, sodass jeder von uns mehrfach zum rosa gebratenen Fleisch dazunehmen kann. Eine knusprige Schwarzkümmelkruste bringt ein sesamig bis leicht kreuzkümmeliges Aroma ins Spiel und gibt mit dem intensiven Jus zusammen dem Fleisch eine kantige Street-Credibility. Die Auberginen- und Beten-Tupfen fangen die energischen Saaten sanft ab – die Sonnenallee lässt schön im Prenzlauer Berg grüßen.
Wie es sich dann doch irgendwie gehört, enden wir beim Süßen. Die Desserts hätten wir nun nicht aus lauter Aufmüpfigkeit zwischen die Suppe – eine milde Schwarzwurzel-Velouté mit Blumenkohl, gerösteter Haselnuss und Pumpernickel – und den Steinbutt-Grünspargelsalat gesteckt. Eine „Baba au Rhum" in Gestalt von Toastscheibchen lagert auf gestockter Schafsmilch und wird von Zitronenmousse und herbfruchtigen Kumquatscheiben umzingelt. Der Birnenstrudel mit Kokoscreme in Canoli-Röllchen-Optik überrascht insbesondere mit der begleitenden, vollmundigen Dinkelkaffeecreme. Oder ist er am Ende doch wegen des verführerischen Kokosaromas mein Favorit?
„Die Gerichte duften alle so gut", sage ich zum Fotografen, während ich auf das Ende des Bildermachens warte und noch einmal wohlig einatme. Meine Nase erinnert sich an den Geruch des Orients mit Schwarzkümmel, und die Steinbutt-Consommé ist ebenfalls sofort wieder genüsslich präsent.
Das ist gewiss nicht das Schlechteste, was ein Restaurant bei seinen Gästen erreichen kann. Gut fürs Wiederkommen ist es allemal.