Berlin ist flach, die Innenstadt liegt teils sogar unter dem Grundwasserspiegel. 63 Pumpwerke arbeiten immerzu, um das Abwasser aus der Mitte weg zu verteilen. Mischwasser-, Regenwasser- und Schmutzwasserkanäle: Sie gehören zum Reich der „Kanaler", die sich um mehr als 9.700 Kilometer Unterwelt zu kümmern haben.
Bereits vor gut 7.000 Jahren im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris – in Mesopotamien, dem heutigen Irak – kannte man schon die Vorzüge der Abwasserwirtschaft. Die Römer perfektionierten das System dann 5.000 Jahre später. Ihr Reich ging unter – und zumindest im heute deutschsprachigen Raum geriet auch das Wissen um dieses Kulturgut völlig in Vergessenheit.
Bis sich das Problem mit dem Abwasser – nach Seuchen wie Pest und Cholera – im Zuge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts mit Macht wieder in den Vordergrund drängte. Großstädte mit explodierenden Bevölkerungszahlen entstanden. Die Briten besannen sich wieder aufs römische Vorbild: In London wurden nach römischem Vorbild die ersten großen Abwasserkanäle unter der Erde gemauert, und zwar bevor dann die Stadt oben gebaut wurde. Berlin konnte von diesem Wissen profitieren und sollte die erste deutsche Stadt mit fließendem Wasser werden – sowohl mit Frisch-, als auch mit Abwasser.
Vor den alten Berliner Stadttoren entstand das neue Berlin. Doch bevor die Mietskasernen in den Bezirken Wedding und Prenzlauer Berg in die Höhe wuchsen oder die neuen Bürgerhäuser in Schöneberg und auf dem Rittergut Teutsch-Wilmersdorf entstanden, wurde gebuddelt: In gut zwei Metern Tiefe verlegte man Frischwasserrohre und mauerte vor allem Abwasserkanäle. Die hatten teilweise beachtliche Ausmaße. So kann man noch heute im damals gebauten Mischwasserkanal unter der Schöneberger Hohenstaufen- und Martin-Luther-Straße aufrecht stehen und hindurchlaufen, er misst 4,20 auf 3,20 im Halb-Oval.
Der Sonderfall am Halensee
An trockenen Tagen fließt nur in der Mitte des Kanals ein Rinnsal von Haus-Abwasser mit allem, was in einem Miethaus anfällt – Toilette, Waschmaschine, Küchenausguss. Doch bei Regen ist der Kanal innerhalb von Minuten nicht mehr begehbar: Er ist dann voller Mischwasser.
Der Vorteil von solchen Mischwasserkanälen liegt klar auf der Hand. Der Boden ist in der Innenstadt fast vollständig versiegelt, bei Regen muss das Wasser schnell weg – das geht aus Platzgründen nur mit Mischwasserkanälen. Der große Nachteil ist: Bei Starkregen fassen die Regenüberlaufbecken die Fluten irgendwann nicht mehr und laufen über, das Mischwasser landet ungefiltert in Spree oder Havel.
Derzeit können in den Regenüberläufen beinahe 250.000 Kubikmeter weggespeichert werden, in vier Jahren wollen die Wasserbetriebe den Stauraum auf gut 300.000 erhöhen. Und noch einen Nachteil gibt es: Mischwasserkanäle sind im Unterhalt relativ teuer – was erklärt, warum die Wasserbetriebe beim Abwasser dreispurig fahren.
Insgesamt liegen unter Berlin etwas über 9.700 Kilometer Abwasserkanäle vergraben – damit könnte man eine Leitung von hier bis auf die Südseite der Erdhalbkugel nach Kapstadt legen. Fast die Hälfte all dieser Kilometer sind reine Schmutzwasserkanäle, das heißt, die Abflüsse aus Haus und Industrie gehen direkt in die Kläranlagen und werden dort wieder aufbereitet. Ebenfalls dorthin leiten die schon beschriebenen 2.000 Kilometer fürs Mischwasser. Das reine Regenwasser wird in gut 3.400 Kilometern Kanal gesammelt und läuft in die Flüsse oder Überlaufflächen.
Wobei es Ausnahmen gibt: Dies gilt nicht für das Regenwasser von stark befahrenen Autobahnen. So war der Halensee Ende der 80er-Jahre tot – erstickt am Dreckwasser, das vom extrem viel befahrenen Autobahnteilstück der A 100 am Funkturm stammte. Das Baden im See wurde aus gesundheitlichen Gründen behördlich verboten.
Mit sehr viel Aufwand legten daraufhin die Wasserbetriebe direkt an der Halenseewiese einen Retentionsbodenfilter an: Der sammelt das Regenwasser von der Autobahn erst in einem Becken, dort setzt sich der mitgeschwemmte Schmutz von der Autobahn ab – nicht nur Rußpartikel, sondern auch hochgiftige Reste der Bremsbeläge. Im eigentlichen Bodenfilter werden dann noch Phosphor, Stickstoff und Schwermetalle abgebaut. Mit gutem Erfolg – mittlerweile ist das Baden im Halensee wieder erlaubt. Insgesamt gibt es in Berlin vier solcher Öko-Wunderwerke für schwer belastetes Regenabwasser, außer am Halensee auch in Biesdorf, Adlershof und Blankenburg.
Doch Regenwasser ist nur ein Aufgabengebiet der Wasserbetriebe, das Schmutzwasser ist ein noch ganz anderer Bereich. Und da wird es richtig kompliziert, erzählt Stephan Przybulewski, seit 30 Jahren bei den Wasserbetrieben.
Der Hintergrund: Berlin hat in Sachen Abwasser ein großes Problem, es ist flach. Hier fließt nichts ab, höchstens in der Mitte zusammen. Denn die Innenstadt liegt in weiten Teilen entweder auf dem Niveau des Grundwasserspiegels oder sogar darunter.
Das heißt für die Wasserbetriebe: Alles, was an Abwasser anfällt, muss aus der Innenstadt raus- und hochgepumpt werden, sonst würde die ganze Mitte im Schmutzwasser absaufen. Dazu gibt es 63 Pumpwerke, die nur damit beschäftigt sind, das Abwasser auf die einzelnen Klärwerke zu verteilen. Koordiniert wird dies über eine Zentrale in Berlin-Mitte, die zusieht, dass alle Klärwerke gleichmäßig belastet werden.
„Kanaler" und „Pumper"
Dabei wird bei den Abwasser-Mitarbeitern bei den Wasserbetrieben unterschieden zwischen den „Kanalern" und den „Pumpern". Stephan Przybulewski ist stolzer Kanaler: Einer der Männer, die draußen sind, wenn mal ein richtiger Regenschauer heruntergeprasselt ist und die Straßen unter Wasser stehen. „Pumper könnt’ ick nich, ick bin mit Haut und Haaren Kanaler!", so Przybulewski. „Immer nur an einem Ort, das wär nüscht für mich. Wir Kanaler sind jeden Tag in der gesamten Stadt unterwegs und sehen zu, dass alles abläuft."
Dennoch: Bei der Bevölkerung sind die Außenmitarbeiter der Wasserbetriebe nicht gerade beliebt, schließlich sperren sie dann und wann einfach mal ganze Straßenzüge. „Na, da müssen wir uns schon reichlich wat anhören", erzählt Przybulewski. Irgendwie kann er das auch verstehen: „Ist ja kein Wunder: Da steht dann ein großes Auto in der Straße, wir stehen davor und schauen auf unsere Laptops. Und keiner sieht, was wir da überhaupt machen." Aber die Kanaler sehen eine ganze Menge auf dem Bildschirm: Im Untergrund ist nämlich ein Kanalroboter unterwegs, entweder auf Ketten oder Rädern. „Kanal-TV" heißt das bei den Mitarbeitern. Mancher Fernsehsender wäre froh, wenn er so teure Kameras in seinem Sendebetrieb hätte. Bloß: Diese Kameras werden jeden Tag in die Jauche geschmissen, um den Abwasserkanal zu filmen. Die Bilder werden oben live verfolgt und alle Schäden im Kanal dokumentiert. Wenn auch, trotz Digital Full-HD, immer mit analogen Maßband im Schlepptau: Jeder der bis zu 100 Kilogramm schweren Film-Roboter zieht ein gelbes Meterband hinter sich her. Klar, er misst Entfernungen auch digital – aber wenn die Räder oder Ketten des Roboters im Schlick durchdrehen, stimmen die gefahrenen Meter vom Einstiegs-Kanal zur Schadensstelle nicht mehr. Schließlich muss ja nach dem Film-Roboter der Reparatur-Roboter programmiert werden, an genau den Schadstellen eine neue Kunststoff-Schutzhülle von innen einzuziehen … Nicht nur die Pumper in ihrer Zentrale, sondern auch die Kanaler draußen sind eine absolute Hightech-Truppe!
Und woher kommen die Schäden im Leitungsnetz? Eigentlich fast ausschließlich durch Baumwurzeln. Ein besonderer Feind ist die Birke, die sehr viel Wasser braucht und gerade im Sommer immer ihren Weg findet, um ans Wasser ranzukommen. Das Problem gerade bei kleineren Abwasserkanälen sind die Muffen zwischen den Rohren: Dort greifen die Wurzeln an und schlängeln sich durch. Haben sie erstmal zu trinken gefunden, gibt es keine Halten mehr – die Wurzeln werden immer größer und sprengen schließlich das Rohr.
Das vergangene Jahr werden die Kanaler und Pumper bei den Wasserbetrieben so schnell nicht vergessen: In Sachen Starkregen gab es 2017 im Raum Berlin drei Jahrhundertereignisse, so der Sprecher der Wasserbetriebe Stephan Natz. Wegen der sehr hohen Regenmengen wurde der Betrieb für Wochen vom Zweischicht- auf Dreischichtbetrieb umgestellt. „Aber ob wir daraus schließen müssen, dass wir in Zukunft größere Abwasserkanäle brauchen, das wird sich erst in 15 Jahren erweisen", so Natz. „Das Problem ist ja: Wir wissen nicht, wo der Regen dann tatsächlich runterkommt."
Die Birke ist der Feind der Kanäle
Eines ist aber jetzt schon klar: Berlin muss sich in Zukunft gerade um den Regenabfluss Gedanken machen, denn durch die zunehmende Bautätigkeit wird der Boden immer weiter versiegelt, sei es durch Gebäude oder zugeteerte Flächen. Das bedeutet, es gibt immer weniger Möglichkeit fürs Wasser auf natürlichem Weg abzufließen.
Aus diesem Grund wurde Anfang Mai die Regenwasser-Agentur gegründet. Zukünftig müssen Bauunternehmer in Berlin, die ein neues Gebäude errichten, dafür sorgen, dass „Regen mitgedacht wird", so Natz. Wer also ab jetzt baut, muss dafür sorgen, dass das Regenwasser auch ablaufen kann, sei es in einen kleinen Teich, wie am Potsdamer Platz, oder in eine Grünanlage. In den amerikanischen Großstädten ist dies übrigens schon lange selbstverständlich.
Für eine der größten derzeitigen Bauunternehmungen in Berlin kommt die Regenwasser-Agentur allerdings zu spät. Die Euro-City zwischen Hauptbahnhof und Wedding wird ohne gesonderte Regenwasserableitung auskommen müssen. Hier, entlang der Heidestraße, entsteht ein komplett neuer Stadtteil mit Wohn- und Bürogebäuden. Die neuen hohen Gebäude werden, laut Berechnungen, das innerstädtische Klima im Bereich Mitte, Wedding und Moabit im Jahresdurchschnitt um sage und schreibe zwei Grad anheben. Mit einem entsprechenden Regenwassermanagement wäre dieser Temperaturanstieg womöglich nicht so hoch ausgefallen.