Das „Schwein" ist in Charlottenburg angekommen. Küchenchef Christopher Kümper bringt dort nach dem Umzug vor drei Monaten wieder ungekünstelte und präzise Gerichte auf die Teller. Das ganze Team kam mit und sorgt ebenso dafür, dass weiterhin ausgefallene Weine und spannende Drinks in den Gläsern landen.
Lassen Sie uns über Essen sprechen. Das tun wir naturgemäß beim Besuch eines Restaurants für diese Kolumne ausführlich. Bei einem Gericht von Küchenchef Christopher Kümper im wiedereröffneten „Schwein" springt uns der Anlass allerdings unübersehbar an: Eine rot-grünes Schachbrettmuster überwölbt ein Gericht in einem Schälchen. Was ist das? Auf jeden Fall ist es zu schade zum Anstechen! Aber nein, die Begleiterin und ich sind uns pflichtbewusst einig: Da müssen wir durch. Mit dem Löffel durchdringt die Begleiterin die Schichten aus Hühner-Ragout, Onsen-Ei und geräuchertem Kartoffelschaum. Das Schachbrett ist aus Hühnergel, der Knusper aus gerösteter Hühnerhaut, Kartoffeln und gerösteten Sonnenblumenkernen. „Ein Querschnitt vom Huhn", sage ich. Die Begleiterin findet’s einfach „spektakulär" in den Texturen und den unterschiedlichen Geschmäckern.
Wie die exakten Quadrate zustande kommen, bleibt allemal küchenchefliches Geheimnis. Wir spaßen mit Begriffen wie „Tiefkühlen", „Schneiden", „Zusammenkleben" oder „Aufmalen" herum und erinnern uns an sämtliche gescheiterten Versuche, saubere andersfarbige Kantenlinien beim Zimmerstreichen zu ziehen. Wir lassen unverzüglich und nicht zuletzt wegen des satten Umami-Geschmacks Begriffe wie „Signature Dish" und „Zeug zum Klassiker" fallen, als Christopher Kümper vorbeischaut. „Das ist ein Gericht, über das man weiterredet, auch wenn es längst aufgegessen ist", sagt die Begleiterin.
Auf der alle sechs bis acht Wochen wechselnden und mit 14 Positionen übersichtlichen Karte versteckt es sich diskret hinter dem im „Schwein" üblichen Dreiklang von „Landei, Kartoffel, Sonnenblumenkerne". Dagegen ist das „Päckchen" aus gebeiztem Lachs mit Lachstatarfüllung und apart aufgestreuten schwarzem Sesamstreifen auf dem zweiten „Vorher"-Teller vergleichsweise unauffällig. Den naturgegeben fetten und vollmundigen Lachs begleitet ein leichter Kohlrabi-Algen-Salat. Mit den Kohlrabi vereinigen sich Passepierre-„Algen", „Algenkaviar" – ein veganger Kaviar-Ersatz –, Kabeljau-Krupuk, eingelegte „White Fungu"-Pilze, ein Stäubchen Algenpulver und eine Koriandermayonnaise. Servicechef Jonathan Staneker hat einen feinherben 2014er Riesling Kabinett von Dr. Randolf Kauer dazu ausgewählt. Der Weiße vom Mittelrhein ist durch seine angehauchte Süße und seine Säurestruktur dem Fisch ein guter Gegenpart.
Die Begleiterin hat zum „Vorher" einen knackig frischen, leicht mineralischen Weißburgunder von Karl Schäfer aus Dürkheim im Glas. Der ist ein standhafter Kompagnon fürs Tatar auf Zwiebelbrot. Wir haben es vermisst, das „schweinische" Tatar vom Rind! Bereits am vorigen Standort in Mitte war es ein Lieblingsgericht. Nach dem Umzug nach Charlottenburg steht es, ebenso wie ein Gericht vom namensgebenden Tier, wieder auf der Karte. Mit einem feinwürzigen Bärlauch-Süppchen aus dem Keramikbecher prosten wir dem Tatar frühlingsfrisch zu. Angerichtet ist es mit gepickelten Gurken, roten Zwiebeln, Pilzen, Zori-Kresse und Eigelb-Gel. Die Begleiterin ist angetan von den eingelegten Gurken und Pilzen, die mit ihrer Säure dem kleingeschnittenen Rind ordentlich Widerworte geben.
Hat sich in den fünf Monaten, in denen das „Schwein" pausierte, eigentlich etwas am Konzept geändert? „Nein, gar nicht. Wir haben das ganze Team mitgenommen und können genau da weitermachen, wo wir in Mitte aufgehört haben." Also mit unprätentiöser saisonaler Küche mit asiatischem Twist – Letzterer zeigt, was Kümper von seinen Asien-Reisen und seiner Station bei André Chiang in Singapur mitgebracht hat. „Ich koche einfach so, wie ich es selbst gern habe, wenn ich ausgehe", sagt er. Erst am 12. Februar wiedereröffnet, war das „Schwein" am Valentinstag zum ersten Mal ausgebucht, verrät David Monnie. Freitags und samstags ist seither eine Reservierung empfehlenswert.
Ob man die drei Standbeine Essen, Wein und Drinks mit dem vom „Team Schwein" ausgedachten Wort „Bistronomy" bezeichnet oder nicht, ist gleich. Das Resultat ist dasselbe: richtig gutes Essen für einen richtig guten Abend. Kleinigkeiten wie „Brot und Butter" oder die opaken, hauchdünnen Gemüsechips und ein Körnerknäcke funktionieren bei der kleinen Einkehr zum qualifizierten Kaltgetränk ebenso gut wie ein Besuch zum ausgiebigen Abendessen mit Weinbegleitung. Die À-la-Carte-Gerichte kosten zwischen 13 und 37 Euro. Die „Nebenbei"-Kleinigkeiten sind für fünf bis 17 Euro zu haben. Wer mag, kann sich in vier oder fünf Gängen für 65 oder 75 Euro vom Menü überraschen lassen.
Der „Fang des Tages" beispielsweise zollt der Spontaneität und Spielfreude des Küchenchefs Tribut: Bei unserem Besuch liegt ein gebratener Seeteufel auf einem zarten Blumenkohlpüree mit Dorschleber. Polen grüßt mit der nach dem Land benannten Garnitur aus Semmelbröseln, Ei, Butter und Petersilie schmackhaft. Ein Amalfizitronen-Gel, ein gepickelter violetter Blumenkohl und japanische Petersilie sorgen für weitere Finesse obenauf. Im Weinglas macht sich dieweil ein „Paradiesgarten" breit. Der liegt im pfälzischen Deidesheim und hat „nur wenig grüne Töne", verrät Jonathan Staneker beim Einschenken. Stattdessen bringt der trockene 2016er Riesling vom Weingut Mehling fruchtig-mineralische Noten mit, die dem „optimalen Erntezeitpunkt" der vollreifen Trauben zu verdanken sind.
Nun hat das „Schwein" in der Mommsenstraße zwar keinen eigenen Garten, aber doch eine Terrasse auf der Straßenseite mit 30 Plätzen bekommen. Der neue „Stall" hat in seinem Inneren 60 Plätze und im hinteren Bereich sogar einen offenen Kamin. Das schlicht-elegant in Weiß und Grau gehaltene Restaurant weist von der Atmosphäre und vom Kulinarischen her allemal Paradiesgärtlein-Qualitäten auf. Die neuen Nachbarn kehren häufig ein und stellen Kümper vor noble Probleme: „Die Charlottenburger kommen häufiger, manche jede Woche einmal. Da müssen wir unser Überraschungsmenü öfter wechseln", sagt Kümper. „Viele unserer Gäste lassen sich gern überraschen."
Auch von der großen Buchstaben-Installation des Künstlers Moshe Alembik. An der Wand im vorderen Gastraum strahlen die Röhren farbiges, aber dezentes Neonlicht ab. „Die Kunst war von Anfang an geplant", erzählt David Monnie. „Neon ist eigentlich eine alte Technik, die aber in unseren modernen Rahmen passt." Überraschend war auch für ihn, dass viele Gäste bei der Reservierung den Platz vor dem Neonlicht ausdrücklich wählen. Ein bewegendes Kompliment erhält das „Schwein" allmonatlich per Pedes: „Ein Pärchen spaziert einmal im Monat aus Neukölln zu uns, um ein Vier-Gang-Menü zu essen", erzählt Monnie. Einst lief das Paar nach Mitte, nun eben hinter den Kurfürstendamm. „Die beiden machen das als Meditation."
Den sprichwörtlichen Sack binden wir kulinarisch mit einem Burrata-Cheesecake zu: Das „Danach" auf der Basis und in der Form des sahnigen Käses hat sich auf Rhabarberstücken niedergelassen. Die baden in einem Rhabarbersud mit Tomatensorbet und Estragonöl. Frühling in rotem Gewand! Und überhaupt: Mehr Estragon an die Desserts! Der anisartige, frische Hauch tut der Süße gut. Wir stoßen mit einem Gläschen „Informal"-Rosé aus Portugal auf diese Forderung an. Auch bei diesem „Erwachsenensekt mit Krawums", wie wir ihn bezeichnen, weiß das Team um Sommelier Manu Rosier genau, was es weshalb wozu empfiehlt.
Die Farbe Rot spielte bereits beim vegetarischen „Mittendrin", dem Hauptgericht „Kraut, Rüben, Miso", eine prägende Rolle: Confierte Navetten – eine lila abschattierte, alte Rübchensorte –, Schwarzwurzeln und Kerbelwurzeln drapieren sich gefällig auf einem Strich vom geräucherten Tompinambur-Püree. Rote-Bete-Miso und einige Tropfen Holzkohlenöl im Rübensud sind die Geschmacksbooster in dem von der großen, goldenen Küchenchef-Pinzette wohlgeordneten Chaos. „Das ist männertauglich", sagt die Begleiterin. Wer Volumen, Biss und Intensität fürs „Gut-gegessen-Gefühl" braucht, kommt bei dem täglich leicht variierenden Gemüse-Mix auf seine Kosten. Vielleicht ist noch ein bisschen von der selbst gemachten Kartoffel-Focaccia oder der Brioche im Brotkörbchen zum Aufstippen da?
Ein 2017er Landwein „Baden Noveau", ein Spätburgunder von Wasenhaus aus biologischem Anbau, begleitet das Gericht. Der Bio-Wein wird zusammen mit den „Rappen", den Trauben-Stielen gekeltert, verrät Jonathan Staneker: „Der Wein wird in karbonischer Mazeration, der sogenannten Kohlensäuremaischung, hergestellt." Diese im Beaujolais, aber auch im Burgund angewandte Technik bringt fruchtige, leichte, rasch trinkbare Weine hervor. „Die beiden, die das machen, sind richtige Freaks."
Die Badener Winzer Christoph Wölber und Alexander Götze sind mit ihrem Naturwein im „Schwein" am richtigen Ort gelandet. Die Leidenschaft für frische, hochwertige Produkte, für Präzisionsarbeit an Töpfen und Pfannen sowie die Exaktheit im Geschmack kennzeichnen Christopher Kümpers kulinarische Handschrift. So wird seit der ersten Eröffnung im Januar 2016 im „Schwein" eine gleichermaßen raffinierte wie ungekünstelte Küche aufgetischt. Ist nun womöglich gar ein Stern im Anmarsch? So manch einer hatte vor der kurzfristigen Schließung im August 2017 darüber gemunkelt.
Von den „Berliner Meisterköchen" gab’s im vergangenen Jahr, trotz und gerade wegen der kurzfristigen Schließung, die Auszeichnung „Aufsteiger des Jahres" für Kümper – ein Statement der Jury. Der 31-Jährige hat zudem mehr als zehn Jahre Erfahrung in der internationalen Spitzengastronomie vorzuweisen. Stationen wie das Schlosshotel Lerbach unter Nils Henkel oder Daniel Boulud in New York waren dabei. Christopher Kümper schielt zumindest nicht aktiv darauf: „Klar, wir nehmen jede Auszeichnung gerne an und freuen uns darüber", sagt er. „Aber eine schönere Auszeichnung als zufriedene Gäste gibt es gar nicht." In diesem Sinne darf das „Schwein" erst gut drei Monate nach seiner Wiedereröffnung wohl bereits als vielfach ausgezeichnet gelten.