Nicht die Art unserer Gene allein, sondern auch wie sie durch Umweltanpassungen aktiviert werden, prägt unser Leben. Diese Erkenntnis hat die Wissenschaftsdisziplin der Epigenetik hervorgebracht. Heute wissen wir: Prägende Erlebnisse können sich auf unsere Kinder und Kindeskinder auswirken.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm", heißt es, wenn sich Kinder im Laufe ihres Lebens wie ihre Eltern oder Großeltern verhalten, ähnliche Neigungen, Berufe und sogar dieselben Empfindungen haben. Forscher haben herausgefunden, dass einschneidende, dramatische Ereignisse Spuren hinterlassen und die ganze Familie prägen, wie etwa der Tod eines Babys, das Weggeben eines Kindes, der Verlust der Mutter, das Verlassen der Heimat oder auch Krieg, Hunger und Gefangenschaft. Die seelischen Belastungen der Eltern und Großeltern können sogar so prägend sein, dass sie sich dauerhaft im Erbgut festsetzen und an die folgende Generation weitergegeben werden. Das wurde unter anderem bei Überlebenden des Holocausts und bei Kriegsveteranen untersucht.
Gene aktivieren und nutzen
Wissenschaftler vermuten, dass traumatische Erlebnisse Gene dauerhaft ein- oder ausschalten können. Jedes Gen hat Genschalter. Kommen von außen Signale, erzeugen die eine Stimulation von Körperzellen. Das führt dazu, dass im Inneren der Zelle Signalstoffe aktiviert werden, die an Genschalter binden, und so die Aktivität der nachgeschalteten Gene erhöht oder erniedrigt werden kann. So kann der Körper den Einsatz seiner Gene an die momentane Situation anpassen.
Wie Traumata, insbesondere die der frühen Kindheit, Auswirkungen auf die Verdrahtung im Gehirn, auf unsere Nervenzellen-Netzwerke haben, beschreibt die Berliner Traumatherapeutin Catherine Xavier am Beispiel der Dissoziation. „Gerät ein kleines Kind in eine Lebenssituation, die es überfordert, die es nicht mehr normal bewältigen kann, dann tritt die Notfallreaktion der Dissoziation inkraft, das Kind entfernt sich ein Stück von seinem Erleben. Diese Dissoziation wird als Erfahrung im Gehirn abgespeichert. Die Seele aktiviert hierbei nämlich Gene zur Produktion körpereigener Schmerzdämpfer, die sogenannten Endorphine, um das Leid nicht fühlen zu müssen. Das Kind ist dann nur noch zu einem Teil bei sich, der andere Teil ist abgespalten. Wenn dieses Programm vom Gehirn gelernt wird, kann es später passieren, dass dieser Abwehrmechanismus auch aktiviert wird, ohne dass eine dramatische Situation wirklich stattfindet. Es sind hier also nicht die Gene selbst, sondern wie die Gene aktiviert und ‚genutzt‘ werden, die das Erleben hervorrufen", sagt die Traumatherapeutin.
Aufgrund zahlreicher erfolgreicher Experimente zur transgenerationalen epigenetischen Vererbung bei Säugetieren wird angenommen, dass unsere Keimzellen, die Spermien der Männer, aber auch die Eizellen der Frauen, nicht nur den Code für all die vielen Proteine enthalten, die das neue Leben festschreiben sollen, sondern auch nebengenetische Botschaften, gerichtet an Zellen, Gewebe und Organe der nachfolgenden Generation. Diese Botschaften würden den Zellen der Kinder vermitteln, wie sie ihre DNA benutzen sollen, schreibt Peter Spork in seinem Buch „Gesundheit ist kein Zufall". So stelle auch die Lebensweise, der Erziehungsstil, das Kommunikationsverhalten über das Erlebte mögliche Mechanismen für eine transgenerationale Weitergabe dar.
Traumatisierte Mäuse
Die Hirnforscherin Isabelle Mansuy von der Universität Zürich versuchte mit ihrem Team herauszufinden, wie traumatische Erfahrungen an die nächste Generation weitergegeben werden. Sie forschten an Mäusen, trennten sie als Mäusebabys wiederholt von ihren Müttern. Zusätzlich sperrten sie die Tiere in enge Röhren. Die Mäuse reagierten abgestumpft, apathisch. In ihren Genen fanden die Forscher charakteristische Veränderungen, eindeutig die bereits bekannten epigenetischen Traumaspuren.
Dann entnahmen sie normal aufgewachsenen Mäusemüttern Eizellen und befruchteten sie mit Spermien von traumatisierten Mäusevätern. Das Ergebnis waren Mäusekinder, die selbst nie ein Trauma erlitten haben und die auch keinen Kontakt zu einem Elternteil hatten. Dennoch gelang es den Forschern, in den Stressgenen auch dieser Tiere epigenetische Trauma-Abdrücke nachzuweisen. Sie waren zurückgezogen und fast depressiv. „Schlechte Erfahrungen hinterlassen Spuren im Gehirn, in den Organen und Keimzellen", sagt Mansuy. „Über die Keimzellen werden diese dann weitervererbt."
Überträgt man diese Erkenntnis auf den Menschen, liegt die Frage nahe, ob unser Schicksal von den Genen bestimmt wird und wir dem genetischen Erbgut völlig ausgeliefert sind. Wissenschaftliche Forschungen verneinen das. Neueste Erkenntnisse über die biochemischen Funktionen unseres Körpers zeigen, dass unser Denken und Fühlen bis in jede einzelne unserer Zellen hineinwirkt.
Der US-amerikanische Entwicklungsbiologe Dr. Bruce Lipton machte in den 70er-Jahren bahnbrechende Versuche mit Stammzellen. Die Ergebnisse zeigten ihm, dass entgegen damaliger Lehrmeinung nicht die Gene allein das Zellwachstum bestimmen, sondern auch Einflüsse der Umwelt unsere Erbanlagen verändern. Heute ist dies unter dem Begriff Epigenetik bekannt. Dr. Bruce Lipton spricht von „intelligenten Zellen".
Bindung ist die erste, entscheidende Erfahrung
Besonders frühe Bindungs- und Beziehungserfahrungen seien ausschlaggebend dafür, ob und wie Gene an- oder abgeschaltet werden, betont Catherine Xavier. Im Traumaerleben sucht sich der Schmerz oft in nachfolgenden Generationen Ausdruck und äußert sich in schwer zu erklärenden Symptomen von Alpträumen über sozialen Rückzug bis hin zu Reizbarkeit und Übererregung. Häufig klagen Klienten über Probleme, von denen sie nicht wissen, wo sie eigentlich herkommen. Meist seien frühe Bindungserfahrungen die Gründe.
„Die Art der Beziehung zwischen Mutter und Kind kann ein Auslöser dafür sein, dass manche Klienten beispielsweise sehr ängstlich sind. Vielleicht war die Mutter selbst sehr verschreckt, möglicherweise hat schon die Oma sie immer sorgenvoll behandelt, weil wiederum auch ihre Mutter verunsichert war. Vielleicht durch eine tiefliegende, abgespaltene Angst oder Traurigkeit, die sie weitergab. Bin ich als Kind in Kontakt mit dieser Mama, nehme ich das auf, ich spüre es. Als Kind bin ich Meister darin, mich mit der Mama zu verbinden und bekomme so Zugang zu den traumatischen Inhalten, die sie noch unbewusst mit sich herumträgt. Sie braucht mir gar nichts zu erzählen, sie braucht mich nicht mal abzulehnen, denn es wird über nonverbale Botschaften übertragen. Es genügt, wenn sie irgendetwas unbewusst in sich hat, was Wärme, Nähe, emotionale Offenheit nicht ganz zulassen kann. Selbst wenn sie mich auf den Schoß nimmt, ist ein Teil von ihr durch ein früheres Trauma nicht wirklich bei mir."
Es könne auch geschehen, dass, wenn die Mutter das Kind hält, dies kein nährender Körperkontakt sei. Ebenso sei es möglich, dass die Mutter das Kind hält, weil sie selbst Trost braucht. „Das ist eine Rollenverdrehung. Das Kind spürt, ich muss hier etwas erfüllen, meine Mama stützen oder meinen Vater. Das macht das Kind natürlich, weil es die Eltern liebt. Und es gibt sich eher selber auf, als dass es die Bindung zur Mama oder zum Papa aufgibt. Und das Kind lebt dann genau so, wie es Mama oder Papa brauchen und verzichtet auf die eigene Entwicklung. So beraubt es sich seiner Identität und erleidet zusätzlich noch ein Bindungstrauma, weil die Person, die es erreichen will, nie wirklich erreichbar ist. Immer wird etwas fehlen, immer wird es danach suchen."
Wir sind, was wir denken und glauben
Das alles geschehe auf der unbewussten Ebene und führe oft zu schweren seelischen Krankheiten, sagt die Berliner Therapeutin. Nur etwa ein bis zwei Prozent seien genetisch bedingte Erkrankungen, hingegen lägen 98 Prozent nicht in veränderten DNS-Sequenzen, sondern in der Art und Weise, wie diese Gene an oder abgeschaltet werden", erklärt der Neurowissenschaftler Dr. Joachim Bauer. Wir bekommen zwar einen Grundpool an vererbten Genen mit, aber wie diese aktiviert werden, wird auch durch neue zwischenmenschliche Erfahrungen, durch den Erziehungsstil, durch unsere Lebensweise, unser Fühlen und Denken und unseren Entscheidungen bestimmt. Also Gene steuern uns nicht nur, sie werden auch gesteuert."
Forschungen ergaben, dass nur ein geringer Anteil unseres Verhaltens auf dem bewußten Verstand basiert. 95 Prozent unseres Lebens wird von unserem Unterbewußtsein, von unseren Gewohnheiten oder Verhaltensmustern programmiert. Liptons Erkenntnis ist, dass wir keine Opfer unserer Gene sind, sondern nur Opfer unserer unbewussten Überzeugungen. „Zwar sind unsere Glaubenssätze im Unterbewusstsein gespeichert, doch wer sich die Zeit nimmt und klar wahrnimmt, was in ihm selbst abläuft, kann die eigenen Überzeugungen durch einen langwierigen Prozess ändern." Epi heißt „über" oder „darüber", also eine Art von Kontrolle, die über der der Gene liegt. Wir sind also unseren Genen und unserer Vererbung nicht ausgeliefert, sondern haben selbst großen Einfluss auf unsere Gesundheit.
Wie wir werden, was wir sind
Deshalb sei es wichtig, die Lebensgeschichte der Vorfahren zu kennen, um die Familienaufträge, die Defizite und traumatischen Ereignisse zu entschlüsseln. Denn vererbte oder selbst erlebte Traumata müssen nicht das Vermächtnis von Leid und Verzweiflung bleiben, sondern können auch ein reiches Erbe an Stärke und Resilienz weitergeben. „Gesundheit ist ein Generationenprojekt", meint Peter Spork. „Umwelteinflüsse wirken tief hinein in das Innerste unserer 30 Billionen Zellen. Sie verwandeln Strukturen am und im Erbgut, die wie ein Gedächtnis wirken und die Aktivierbarkeit der Gene verstellen. Dadurch verändern Zellen dauerhaft ihre Aufgaben und ihre Arbeitsweise." Eine Chance, sich selbst und die nachfolgenden Generationen neu zu programmieren. Fachleute nennen das Genregulation.
Doch das eigene Denken, die eigenen Überzeugungen umzuprogrammieren, ist keine leichte Sache. Alte Gewohnheiten und Denkmuster aufzugeben, braucht Zeit und Arbeit an sich selbst, sodass epigenetische Muster neu geordnet werden können. Die Traumatherapeutin Catherine Xavier geht mit ihren Klienten auf Spurensuche nach den unbewussten Wirkkräften. Wie fühle ich mich in meinem Körper? Bin ich emotional da und mit mir in Kontakt? Was steckt hinter meinen Verspannungen? Musste ich mich an dieser Stelle vielleicht zusammenziehen oder zusammenreißen? Das wirkt heute noch nach. Die Ursache für ein bestimmtes Problem zeigt sich auch darin, wie das eigene Ich beschaffen ist. Bin ich wirklich ich oder vollziehe ich den Willen anderer? Fühle ich meine Lebensfreude oder habe ich sie verloren? Was hindert mich heute, in Freude zu leben?
An den traumatisierten Anteilen arbeiten heißt, sie integrieren, um damit seine eigene Wahrheit und Identität zu finden, die gesunden Anteile zu stärken und für sich klarer zu werden.
Die schweizerische Psychologin Alice Miller drückte es so aus: „Jeder Mensch hat wohl in sich eine mehr oder weniger vor sich selbst verborgene Kammer, in der sich die Requisiten seines Kindheitsdramas befinden. Die einzigen Menschen, die mit Sicherheit Zutritt zu dieser Kammer bekommen werden, sind seine Kinder."