In seinem aktuellen Buch „Krank durch Früherkennung" nimmt Dr. Frank Wittig Vorsorgeuntersuchungen kritisch unter die Lupe. Im Interview verrät er unter anderem, warum man Medizinern nicht blind vertrauen sollte.
Herr Dr. Wittig, Sie sind Wissenschaftsjournalist – unter anderem für den Südwestrundfunk – und widmen sich vor allem medizinischen Themen. Wie sind Sie dazu gekommen?
Als ich beim SWR (SWF) 1996 anfing, sagte ich meinem Chef, dass ich gerne Beiträge zu Themen wie Teilchenphysik oder Smart Materials machen würde. Er sah mich zweifelnd an und erklärte mir, dass Fernsehen ein Massenmedium ist, und dass sich gerade unsere Zuschauer mit einem Durchschnittsalter von 60 plus für naturwissenschaftliche Grundlagenforschung oder intelligente Materialien kaum interessieren. Die wollten auch in einem Wissenschaftsmagazin Aspekten ihrer Lebenswelt begegnen. Und in der Medizin trifft die Wissenschaft den Alltag. 50 Prozent des Wissenschaftsjournalismus in Deutschland ist Medizin-Journalismus. Außerdem habe ich nach wenigen Jahren gemerkt, dass unser Gesundheitssystem und auch die Medizin-Industrie dringend einer kritischen journalistischen Begleitung bedarf. Da läuft leider vieles schief!
Wie sah die Recherche für Ihr neues Buch aus?
In dem Buch „Krank durch Früherkennung" habe ich hauptsächlich aus vielen Jahren stammende Rechercheergebnisse aus meiner Arbeit als TV-Journalist in einer Art „Zweitverwertung" umgesetzt. Eigentlich sogar eine „Drittverwertung", denn ich habe viele Magazinbeiträge zu diesem Thema gemacht und auch eine längere TV-Dokumentation mit dem gleichen Titel. Wo ich recherchiert habe? Da kommt ganz viel zusammen. Ich bin zum Beispiel immer ganz glücklich, wenn es zu einer Fragestellung eine Metaanalyse von Cochrane gibt. Das sind unabhängige Wissenschaftler, die alle relevanten Studien aus Datenbanken sammeln – oft viele Tausende –, und dann die nach den strengsten wissenschaftlichen Vorgaben angefertigten Studien zusammenfassen. Das sind die besten Medizin-Informationen, die sie auf unserem Planeten finden können. 2012 veröffentlichte Cochrane zum Beispiel eine Metastudie zum allgemeinen Gesundheitscheck. Hierzulande wird der unter dem Namen „Check-up 35" vermarktet. Die Studienergebnisse sahen gar nicht gut aus. Von da an hab ich mich intensiver mit dem Thema „Krank durch Früherkennung" befasst.
Ihr aktuelles Buch „Krank durch Früherkennung" widmet sich der sogenannten Überdiagnose. Inwiefern kann durch Früherkennung Schaden angerichtet werden?
Die oben erwähnte Metastudie fand beim allgemeinen Gesundheitscheck keinen Nutzen bezüglich des relevantesten „Endpunktes" Mortalität. Aber es gab einen interessanten Unterschied zwischen der Gruppe, die zum Check-up ging und der Kontrollgruppe ohne Untersuchungen. Die Check-up-Gruppe hatte am Ende mehr Kranke. Die mussten Medikamente gegen zu hohen Blutdruck, Cholesterin, Diabetes et cetera nehmen. Sie hatten gegen die offenbar zu strengen Grenzwerte verstoßen und waren zu Pillenschluckern geworden. Ganz offensichtlich hatten sie aber keinen Nutzen davon. Sie lebten nicht länger als die Teilnehmer der Kontrollgruppe. Man sollte zum Arzt gehen, wenn man eine Krankheit befürchtet. Als Gesunder hat man beim Arzt nichts zu suchen. Man verstopft nur die Praxis und bekommt sinnlos Medikamente – oft mit bösen Nebenwirkungen (Muskelschmerzen durch Statine etwa), die nicht als Folge der Medikamente erkannt und dann mit weiteren Medikamenten behandelt werden: Krank durch Früherkennung. Alle Krebs-Früherkennungen haben das Risiko, dass Gewebeveränderungen erkannt werden, die Patienten nie ein Problem bereitet hätten. Aber sie werden dann bestrahlt, operiert, bekommen eine Chemo. Oft ist der Überlebensvorteil insgesamt erschreckend gering und die Chance, sinnlos behandelt zu werden, deutlich größer. Ganz miserabel sieht es bei der Prostatakrebs-Früherkennung aus. Die erzeugt ein sinnloses Gemetzel.
Warum ist dies so?
Weil Urologen gerne tüchtig Geld verdienen.
Das Screening zur Brustkrebs-Vorsorge steht am meisten in der Kritik …
Wie gesagt: Überdiagnosen und Fehlbehandlungen. Aber auch schon die erste Mitteilung „Erscheinen Sie bitte zu einer Abklärungsuntersuchung" ist für die meisten Frauen natürlich ein Schock. Sie fühlen sich die Tage bis zur Untersuchung als potenzielle Todeskandidatinnen. Schlimmer wird es dann, wenn die Untersuchung keine Entkräftung des Verdachts bringt. Durch die im Folgenden angesetzte Punktion kann sich die Brust entzünden. Und selbst wenn dann die Entwarnung kommt, sind viele Frauen dauerhaft traumatisiert. Und nach der größten Metastudie mit 600.000 Studienteilnehmerinnen ist es so, dass 2.000 Frauen zehn Jahre zum Screening gehen müssen, damit eine vor dem Tod durch Brustkrebs bewahrt wird. Fünf bis zehn der Frauen werden aber in dieser Zeit sinnlos gegen Brustkrebs behandelt. Der Werbespruch, dass Früherkennung so wichtig für den Behandlungserfolg sei, ist medizinisch nur sehr schwach begründet. Er dient vor allem der Ausweitung des Geschäftsmodells. Seit 2014 stehen solche Zahlen auch endlich in den Informationsblättern, die die Frauen zum Screening erhalten. Ich halte es übrigens für eine schlimme Fehlentwicklung, dass Frauen von staatlichen Behörden zur Früherkennung „einbestellt" werden. Das ist Big Brother.
Ist den Radiologen, die mit dem Screening ihr Geld verdienen, das Patientenwohl egal oder wissen manche selbst nicht um die Probleme?
Ich habe bei der Recherche zu meiner TV-Dokumentation in der Screening-Station einer Landeshauptstadt mit der Chefin dort darüber gesprochen. Sie meinte in einem Nebensatz, dass es sie ärgere, dass mittlerweile viele Gynäkologen ihren Kundinnen davon abrieten, zum Mamma-Screening zu gehen. „Was könnte denn der Grund dafür sein", fragte ich, wie ein Journalist, der das Arbeitsgebiet Recherche etwas vernachlässigt hat. Sie könne es sich auch nicht erklären, meinte die Dame. Am ehesten glaube sie, dass die Gynäkologen Angst hätten, dass die Radiologen ihnen die Patientinnen wegnähmen. Was für ein Schwachsinn! Gynäkologen sind doch nicht prinzipiell debil! Die Screening-Chefin hat mich dreist angelogen. Es kann ihr nicht entgangen sein, dass dieses Screening seit mindestens 20 Jahren sehr kontrovers diskutiert wird – um es freundlich auszudrücken. Sie wollte ihr Jahresgehalt von schätzungsweisen 250.000 Euro beschützen. Sorry, aber ich kann mir keinen anderen Grund vorstellen.
Warum ist das Screening auch bei tatsächlich an Krebs Erkrankten so problematisch? Sie schreiben, dass sehr häufig Tumore übersehen werden. Wie kann das sein?
Einen Leberfleck von einem Melanom zu unterscheiden – daran scheitern viele Hautärzte. Das ist das Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie. Solche falsch negativen Ergebnisse gibt es bei allen Früherkennungs-Untersuchungen bei Krebs. Sie haben ja in der ersten Stufe der Untersuchung in der Regel nur einen optischen Zugang zum „Problem". Das Gewebe schwenkt ja nicht die Fahne und sagt: „Hallo, ich bin Krebs". Da hängt vieles von der Erfahrung der Untersucher ab.
Gibt es denn auch Früherkennungen, die sinnvoll sind?
Es gibt Früherkennungen, die nicht so sinnlos sind, wie die meisten anderen. Gebärmutterhalskrebs-Früherkennung etwa. Vor allem, weil hier Krebs tatsächlich verhindert werden kann. Allerdings wird in Deutschland zu intensiv gesucht, zu kurze Intervalle, zu viel geschnitten. Das ist auch das Ergebnis einer vom Gesundheitsministerium in Auftrag gegebenen Studie. Aber die Gynäkologen scheren sich nicht darum. Auch Darmkrebsfrüherkennung kann Darmkrebs verhindern. Aber ich müsste statistisch gesehen viele tausend Jahre zu dieser Früherkennung gehen, um einmal davon zu profitieren. Abführmittel schlucken. Das tue ich mir nicht an. Zumal auch diese Früherkennung schon Menschenleben gekostet hat. Es ist aber natürlich auch von ihrer Einstellung abhängig. Wenn sie ein Hypochonder sind und sich nach dem Ergebnis der Früherkennung – wenn der Arzt sagt, sie sind gesund – besser fühlen, dann macht Früherkennung vielleicht Sinn. Aber Vorsicht: Es gibt eben auch die gefährliche, falsche Entwarnung.
Wieso schlagen die Krankenkassen nicht Alarm – immerhin finanzieren sie die Früherkennung und die entsprechenden Behandlungen …
Gute Frage. Ein schönes Beispiel für eine strukturelle Fehlsteuerung im Gesundheitswesen. Vor einigen Jahren haben wir die Finanzierung der Krankenkassen geändert. Bis dahin wurden sie schlicht über Mitgliederbeiträge finanziert. Das war in gewisser Weise ungerecht, weil die Mitglieder zum Beispiel der TK (Techniker, Ingenieure) ein geringeres Risiko hatten, im Beruf verletzt zu werden, als etwa Bauarbeiter. Also schuf man den Gesundheitsfonds als Risikostrukturausgleich. In diesen Fonds fließen die Beiträge der Versicherten. Und aus diesem Fonds bekommen die Krankenkassen Geld für Kranke. Seitdem haben Krankenkassen ein Interesse, möglichst kranke Kunden zu haben, weil sie so mehr Geld bekommen. Seitdem sind die Krankenkassen ganz scharf auf Früherkennung.
Gab es vor zehn, 20 Jahren auch so viele Fälle von Überdiagnose und Übertherapie?
Wir haben in den letzten 15 Jahren unser Gesundheitssystem gnadenlos auf Ökonomie getrimmt. Krankenhäuser bekommen nur noch Geld für Leistung. Also erbringen sie Leistung. Vor 20 Jahren haben die Ärzte aus medizinischen und aus ökonomischen Gründen nach dem „kleinsten" Eingriff gesucht, der dem Patienten gut hilft. Heute suchen sie aufgrund der Gebührenordnung (DRG-System) nach dem aufwendigsten Eingriff, der sich durch irgendeine obskure Studie gerade noch rechtfertigen lässt. Weil dann einfach mehr Geld fließt.
Wer profitiert alles von der Früherkennung?
Die Ärzte, die Früherkennung betreiben. Jede Untersuchung wird natürlich abgerechnet. Die Ärzte und Krankenhäuser, die durch die Früherkennung Fälle „zugeschustert" bekommen. Eine Studie von 2012 weist nach, dass ein Viertel der Krankenhäuser bereit war, Kopfprämien für Überweisungen zu zahlen. Die strecken sich nach Patienten, das darf nicht sein. Die Pharmaindustrie und die Gerätehersteller profitieren natürlich auch. Und die Krankenkassen. Der ganze „medizinisch-industrielle Komplex" – sorry für dieses Wort.
Welche Konsequenzen sollten wir als Patienten aus diesem Wissen ziehen?
Nicht zum Spaß zum Arzt zu gehen. Bei Eingriffen eine Zweitmeinung einholen. Die Tatsache, dass die Gutachter mit der Operation kein Geld verdienen, hilft ihnen enorm, objektiv zu sein.
Wie halten Sie es persönlich mit Vorsorgeuntersuchungen?
Mache ich nicht. Außer beim Zahnarzt. Aber das hat auch eher versicherungstechnische Gründe. Auch die Früherkennung beim Zahnarzt ist prinzipiell nicht ungefährlich. Suchen Sie sich Ärzte, die einen defensiven Eindruck machen. Wir betreiben zu viel Medizin in Deutschland.