Dem Mutterland des Fußballs sind wir Deutschen traditionell immer einen Elfmeter voraus. Doch im gesellschaftlichen Umgang mit demenziell veränderten Menschen sind die Briten mit rund 2,5 Millionen „Dementia Friends" und „Dementia Friends Champions" wahre Weltmeister.
An einem sonnigen Sonntagmorgen sitzt eine ältere Dame in einem kleinen englischen Hafenstädtchen an der Uferpromenade auf einer Bank und schaut verträumt aufs Meer. Daran wäre erst einmal nichts Besonderes, wäre die Frau nicht mit einem Nachthemd und Hausschuhen bekleidet. Wenige Minuten später setzt sich eine Passantin dazu und beginnt eine scheinbar sehr entspannte Unterhaltung mit der sonderbaren Dame. Nach einer Weile stehen beide auf und schlendern Arm in Arm davon, als sei es das Normalste der Welt.
Und das ist es auch. Die freundliche Passantin, ein Mitglied der „Dementia Friends"-Initiative (deutsch: „Demenzfreunde"), hat erkannt, dass die ältere Dame im Nachthemd höchstwahrscheinlich an Demenz leidet und eine Bewohnerin einer nahegelegenen Seniorenresidenz sein muss, die sich verlaufen hat. Mit dem erlernten Handwerkszeug, das die Passantin in den Informationsveranstaltungen der Dementia Friends Sessions erworben hatte, gelingt es ihr völlig unaufgeregt, die Dame in ihr Zuhause zurückzubringen.
Was steckt dahinter?
Dementia Friends in England und Wales ist eine Bewegung, die versucht, mehr Wissen über Demenz und die Bedürfnisse der Betroffenen in die Gesellschaft zu transportieren. Die Initiative wird von der Alzheimer’s Society England betrieben und inzwischen von Privatpersonen sowie unzähligen Vereinen und Institutionen unterstützt, darunter Polizei, Feuerwehr, Unternehmen, Restaurants, Schulen, Universitäten, Energieversorger bis hin zu prominenten Fußballclubs.
In regelmäßigen Informationssitzungen werden Bürger zum Thema Demenz geschult. Durchgeführt werden diese Schulungen von ehrenamtlichen Dementia Friends Champions, die wiederum durch die Alzheimer’s Society UK ausgebildet werden. Jede Informationssitzung dauert ungefähr eine Stunde. Man vermittelt den Laien Grundwissen über die Warnzeichen, die Symptome und den Verlauf der heimtückischen Krankheit. Den Teilnehmern wird das Wichtigste über die persönlichen Auswirkungen von Demenz beigebracht und was sie selbst tun können, um Betroffenen zu helfen.
Demenzkranke besser verstehen
Ein „Demenzfreund" lernt ein bisschen mehr darüber, was es heißt, mit der Demenz zu leben. Er soll dieses Wissen in alltäglich auftretenden Situationen mit Verständnis in die Tat umsetzen. Nur wer besser Bescheid weiß, kann entsprechend handeln und Betroffene selbst oder auch deren Familien unterstützen, lautet die Devise. Das Ziel ist, dass sich immer mehr Menschen, entsprechend einem Schneeballsystem, mit diesem Thema auseinandersetzen und so flächendeckend zum Wandel hin zu einer demenzfreundlicheren Gesellschaft beitragen.
Dementia Friend kann man in jedem Alter werden. Selbst Kinder und Jugendliche werden durch die Initiative ermutigt, sich an dem Programm zu beteiligen. Inzwischen haben sich etwa 2,5 Millionen Menschen in England der Initiative angeschlossen. Dort werden nach jedem Film oder nach einer Reportage mit dem Thema Demenz im Untertitel Kontaktadressen eingeblendet. Besonders zu Sendezeiten, in denen überwiegend Jugendliche fernsehen. Auch in Schulen werden Kampagnen zum Thema Demenz durchgeführt, um bereits Kinder auf dieses Thema vorzubereiten und zu einer im Alltag selbstverständlichen Hilfsbereitschaft zu sensibilisieren.
Während sich ein Dementia Friend ausschließlich im alltäglichen Umgang mit Demenzkranken einsetzt, engagiert sich der Dementia-Friends-Champion in der Organisation, mit Kampagnen, Veranstaltungen und der Akquise neuer Dementia Friends.
Vorbild Manchester
In einem Supermarkt in Manchester beklagte sich an der Kasse eine ältere Dame, die sich ihrer Krankheit bewusst war, über die Hektik und die Schnelligkeit, der sie nicht mehr gewachsen schien. Der Marktleiter, Mitglied der Dementia Friends, erkannte aufgrund seiner Ausbildung sofort das Problem und führte daraufhin eine Sonderkasse für demenzkranke Menschen in seinem Supermarkt ein. An dieser Kasse geht jetzt alles einen Schritt langsamer und geduldiger vor sich. In diesem Supermarkt bekommen Demenzkranke jede Unterstützung, und so ist es ihnen möglich, lange eigenständig ihre Einkäufe zu tätigen.
Die Stadt Manchester gilt in England als Musterbeispiel in Bezug auf die Dementia-Friend-Initiative. Allein in Manchester gibt es bereits 10.550 Dementia-Friends-Champions. Manchester hat es sich zum Ziel gemacht, eine „demenzfreundliche Stadt" zu werden. Wie andernorts ermutigt Dementia Friends Manchester durch umfangreiche Aktionen ihre Mitglieder, mit Menschen, die mit der Krankheit leben müssen, in Kontakt zu treten, ihnen mit viel Geduld zu begegnen und dauerhaft mit ihnen in Verbindung zu bleiben. Auch hier wird Normalität und der Versuch, die Menschen solange wie möglich in der Mitte der Gesellschaft zu halten, großgeschrieben.
Die genannten Beispiele zeigen, wie schon heute die positiven Wirkungen der Dementia-Friends-Initiative in der englischen Gesellschaft sichtbar wird. Besonders imponierend ist dabei die Selbstverständlichkeit, mit der die Engländer diesen Situationen begegnen.
Erste Ansätze hierzulande
In Deutschland gibt es inzwischen eine Schwesterorganisation, die Initiative „Demenz Partner" der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, die deutschlandweit aber erst knapp 27.000 Mitglieder verzeichnen kann. Doch auch hier lassen sich erste Erfolge vorweisen.
Was heute Experten in Deutschland fordern, nämlich die Demenz mit all ihren Facetten in die Mitte der Gesellschaft zu holen und nicht in separate Formate wegzuorganisieren, ist in Großbritannien bereits Realität. Man kann sogar sagen, dass sich die meisten der europäischen Staaten im Zuge ihrer eigenen Demenz-Strategien an Großbritannien mit Schottland, Wales und England orientieren. Der „European Dementia Monitor" bewertete England neben Finnland als Europas beste Demenzgesellschaft.
Die Organisation „Alzheimer Scotland" hilft Betroffenen bereits ab der Diagnose
Alzheimer Scotland
Bei der von der Organisation „Alzheimer Scotland" entwickelten Demenzstrategie besteht die Vision hauptsächlich darin, Menschen mit Demenz ab dem Zeitpunkt der Diagnose bis zum Lebensende mit Hilfe eines individuellen Unterstützungsplans beiseitezustehen. Er wird mittels eines gut geschulten Link Workers durchgeführt. Diese kommen meist aus dem Gesundheits- und Sozialbereich und erhalten vor ihrem Einsatz eine besondere Ausbildung. Link Worker sind hauptberuflich tätig und in einem erheblichen Umfang über Alzheimer Scotland angestellt, wobei die Finanzierung der Vergütung durch Gesundheits- und Sozialfürsorgepartnerschaften sichergestellt wird.
Der Mindestzeitraum der Unterstützung von einem Jahr erlaubt es dem Link Worker, in einem Rhythmus zu arbeiten, der individuell von der betroffenen Person und ihrer Familie mitbestimmt wird.
Dieses Projekt soll sicherstellen, dass Menschen, die an Alzheimer erkrankt sind, nach ihrer Diagnosestellung Betreuung und Unterstützung erhalten, um sich auf die Krankheit und ihren Verlauf einzustellen. Das heißt, es soll die Erkrankten in einem frühen Stadium, in dem sie noch fähig sind, Entscheidungen für sich selbst zu treffen, in der Gestaltung ihres Lebens mit der Demenz unterstützen, um damit ihre Lebensqualität maßgeblich zu verbessern und Krisensituationen zu vermeiden.
Weniger Vertuschung, mehr Selbstbestimmung
Am Anfang dieser Strategie steht eine offene und ehrliche Diagnosestellung durch den entsprechenden Arzt. In vielen Ländern ist es immer noch üblich, den betroffenen Menschen die Diagnose Demenz erst gar nicht persönlich mitzuteilen.
In der Regel tauschen sich Ärzte und Angehörige aus und es folgt oft ein jahrelanges Vertuschungsprogramm. Diese falsch verstandene Rücksichtnahme verhindert, dass der Patient in einem frühen Stadium noch weitgehende Entscheidungen für den Rest seines Lebens treffen kann. Am Ende ergibt sich meistens, dass der amtlich bestellte Betreuer dann alles für den Betroffenen entscheidet, von der Heimunterbringung bis zu finanziellen Transaktionen. Ganz anders in Schottland: Mit Hilfe der Link Worker können sich die Betroffenen in Schottland dieser Fremdbestimmung weitgehend entziehen.
Beispielsweise planen die Betroffenen einen barrierefreien Umbau der eigenen Wohnung. Die frühzeitige Besichtigung verschiedenster Unterbringungsmöglichkeiten gestattet dem erkrankten Menschen die Entscheidung, in welcher Einrichtung er später leben möchte. Auch Notar-Besuche und ein selbst angefertigtes Testament können noch in eigener Regie durchgeführt und Erbschaftangelegenheiten noch selbst geregelt werden. Die Frage der Würde steht hier an erster Stelle. Der frühe Austausch mit anderen Betroffenen wird durch die Link Worker ebenso möglich gemacht und unterstützt.
Der Kontakt zu anderen Betroffenen und der ausgesprochen offene Umgang mit dem Thema verhindern so die Isolierung und die dadurch bedingte Vereinsamung. Dies ermöglicht den Menschen mit Demenz für eine längere Zeit, ein Teil ihres sozialen Umfelds zu bleiben. Ein Beispiel aus der Praxis: Der 57-jährige Alex hatte noch einen Traum, nachdem er die schockierende Alzheimer-Diagnose bekam: „Eine Sache, die mir half, nach meiner Diagnose aus einem sehr dunklen Loch wieder herauszukommen, war meine Musik. Ich beschloss nach meiner Diagnose, meinen Traum, ein Album zu schreiben und aufzunehmen, solange ich noch kann, zu verwirklichen."
Zurück nach Deutschland. Die Angehörigen spielen hierzulande leider noch zu oft eine negative Rolle. Falsche Scham und das Vertuschen der Krankheit der Mutter, des Vaters oder eines anderen nahestehenden Verwandten sind schlechte Ratgeber und verschlechtern die Lebensqualität der Betroffenen in der Regel um ein Vielfaches. Daher ist es, wie in Schottland geschehen, besonders geboten, die Angehörigen aufzuklären und in dieses Projekt einzubinden.
Was wir daraus lernen können? Für demenziell veränderte Menschen besteht das Besondere im Alltag – lassen wir sie daran teilhaben.