„Candide Schokoladen" in der Arminius-Markthalle in Moabit fertigt schlichte wie erlesene Pralinen in Handarbeit. Hergestellt wird regulär immer eine einzige Sorte – und zwar im vierzehntägigen Wechsel.
Der Patissier hat da mal was vorbereitet: eine halbquadratmetergroße Platte aus gekühlter Masse für Schwarztee-Passionsfrucht-Pralinen auf einem überdimensionalen „Eierschneider". Nicht nur, weil das Absenken der in einem Rahmen aufgespannten Saiten in diesem Profi-Pralinenschneider so fotogen ist. Sondern auch, weil damit die zweite Hälfte der Arbeitsschritte bei „Candide Schokoladen" beginnt. Daniel Budde, der Herr der Pralinen, senkt erst einen Rahmen mit schnittigen Saiten waagerecht, einen weiteren danach senkrecht durch das Innenleben, das gleich unter einem Schokoladenguss verschwinden wird. Noch bevor wir erfahren, wie viele „Klötzchen" so entstehen, erzählt uns der Patissier und Mitbesitzer von „Candide", dass eine Praline durch die elegante Handhabung definiert sei: „Eine Praline ist so groß, dass eine Dame sie in zwei Bissen verzehren kann." Dies habe ihm unlängst eine Frau, die ihn in der Arminius-Markthalle aufsuchte, erklärt.
Ob ich so viel Damenhaftigkeit zustande bringe? Immerhin sind die Häppchen dermaßen köstlich, dass ich so einen der kleinen Quader in den Abmessungen von 15 mal 30 Millimetern auf einmal verzehren kann. Andererseits: Der Preis von knapp 1,40 Euro pro Praline ist mindestens zweier Bissen würdig! In jedem „Layer", wie Daniel Budde und „Candide"-Mitbesitzer Christopher O’Connor die einzelnen Geschmacks-ebenen bezeichnen, tun sich neue Dimensionen auf. „Probiert mal nur von der Masse", fordert uns Budde auf. Wir nehmen viel gekühlte Passionsfrucht im Mund wahr. Der Schwarztee aus Thailand spielt kaum spürbar mit. Das Ganze ist zweifellos noch unperfekt und einen Tick zu säuerlich.
Das geschnittene Innenleben wird portionsweise auf ein Förderband aus drahtigen Maschen gelegt. Auf Knopfdruck setzt es sich in Bewegung und nimmt eine ausgiebige Schokoladendusche. „Oh, so was wie der Regenvorhang im Friedrichstadtpalast", entfleucht es mir. Und ein Traum für Schokoholics: Ich soll meinen Finger in den Schokovorhang hineinhalten. Schwupps habe ich die geschmolzene Vollmilchschokolade abgeleckt. Der Kinderreflex! Ich sollte doch nur unterhalb der Lippe den Wärmetest machen. „Die Schokolade ist richtig, wenn sie blutwarm ist", sagt Budde. Wenn sich’s unterhalb der Unterlippe gut anfühlt, stimmt die Temperatur. 29 Grad lese ich stattdessen vom Display der Schokoladen-Temperier-Maschine ab. „Mein Ausbilder war alte Schule. Er wollte, dass wir alles auch ohne Maschinen können." Budde könnte also nach dem Ausfall der Systeme die Grundversorgung der Menschheit mit Pralinen sicherstellen – sehr beruhigend.
Die Schokodusche ist die einzige „richtige" Maschine in dem kompakten Glaskasten, in dem sich gerade mal eine Person bei der Arbeit ordentlich bewegen kann. „Es würde nichts verbessern, diesen Schritt von Hand zu machen", erklärt Budde. Die Ansprüche an Produktqualität und Präzision sind bei „Candide" streng. In die Pralinen in schlichter Optik kommt nichts hinein oder obenauf, was nicht dem Geschmack dient. Keine Schnörkel, nirgends. „Meine Zeit und Energie setze ich lieber dafür ein, den Geschmack zu verbessern."
Weiter geht’s mit dem Probieren: „Nehmt euch jetzt ein Stück mit noch warmer Schokolade." Aha. Die Passionsfrucht dominiert immer noch, aber die Vollmilchschokolade, eine Sorte aus der Dominikanischen Republik, kommt langsam nach vorne.
„Wir gehen genauer auf die Schokoladen ein", ergänzt Christopher O’Connor. Die bei der Teepraline im Inneren verwendete ist eine eher saure. Vorrangig arbeitet „Candide" mit Valrhona-Schokoladen-Vorprodukten. „Die Schokoladenherstellung ist für uns in jedem Fall ein Thema für die Zukunft", sagt er. Die hat bei „Candide" gerade erst angefangen – im November 2017 startete die Produktion im klimatisierten Glaswürfel, der auch dem nahen Sommer standhalten soll. Die Mini-Manufaktur ist gerade einmal neun, zehn Quadratmeter groß: „So klein wie mein erstes Zimmer in Berlin, am Westhafen", sagt Budde.
Manufaktur auf kleinstem Raum
Hergestellt wird regulär immer nur eine Sorte: „Die Praline im Zwei-Wochentakt", nennen sie die Macher. Die gibt’s entweder im Online-Abo, im KaDeWe oder in der Arminiushalle vor Ort zu kaufen. Man setzt für die Zukunft auf Partnerschaften mit anderen Genusswaren-Händlern. „Zigarren- oder Weinleute kommen immer wieder auf uns zu", berichtet O’Connor. So mancher private Schokoholic dagegen schaut für seinen eigenen Verzehr gezielt alle zwei Wochen in der Halle vorbei – eine Art „Vor-Ort-Abo". Der vierzehntägliche Takt für die „Neuerscheinungen" ist gut gewählt; die Pralinen sollen frisch verzehrt werden. Ich behaupte: Selbst eine 18er-Schachtel, die für 24,80 Euro verkauft wird, dürfte es mit ihrer Geschmackswucht schwer haben, älter als zwei Wochen zu werden.
Vielleicht wird als nächstes die Braune-Butter-Praline mit dem obenauf gestreuten Rauchsalz vom benachbarten Barbecue-Lokal „Pignut Barbecue" in die Produktion gehen? Wir dürfen von einigen Exemplaren auf einem Glastablett probieren. Das hellbraune Stückchen mit dem Karamell-Salz-Geschmack macht unverzüglich glücklich. Oder doch die dunkle mit Kaffee und Kardamom? Die ersetzt mit ihrer Koffein-Power glatt einen – indisch akzentuierten – Espresso. Vielleicht sind die beiden Sorten aber auch aus dem Probier- und Schatzkästlein von Daniel Budde.
Der Fotograf will wissen, wie lange es von der Idee bis zur Produktion einer neuen Pralinensorte dauert. „Fünf Minuten!", ruft O’Connor wie aus der Pistole geschossen. Ein fragender Blick auf Daniel Budde. „Oder habe ich jetzt was Falsches gesagt?" Wohl kaum. Budde beherrscht sein Handwerk: Er kann sein Wissen abrufen und schon im Kopf Neues daraus komponieren. Wer eine Sorte im großen Stil ordert, hat wiederum einen Favoriten oder eine zum Anlass passende Praline im Blick. Das Staatstheater Meiningen reichte kürzlich „Candide"-Pralinen zu einer Premierenfeier, und selbst an den Broadway in New York haben sie es auf die Dernière eines Stückes geschafft. Ob’s an den guten Verbindungen des Opernsängers O’Connor in der Szene liegt? Darstellende Kunst und Kulinarik haben in jedem Fall einiges gemeinsam. „Es ist, als ob ein Orchester im richtigen Saal und ins richtige Licht gerückt spielt", beschreibt O’Connor den großen Auftritt im Geschmackstheater.
Den „vollen Klang" der Schwarztee-Pralinen, die mit Vollmilch-Schokolade überzogen noch heruntergekühlt werden müssen, bevor sie von Hand in schlichte, weiße Schachteln verpackt und ausgeliefert werden, können die Gäste im „Orania" in Kreuzberg genießen. Für das Hotel gibt es eine Ausnahme in Sachen Verzierung – die Schwarztee-Pralinen werden mit einem Hauch Goldpuder bestäubt. „Der sieht einfach nur schön aus", meint Budde. Werden solche größeren Aufträge produziert, werden in Moabit durchaus 8.000 Stück pro Woche hergestellt.
Wir dürfen nun eine fertige, richtig temperierte Praline probieren. Da ist der volle Teegeschmack, leicht milchig abgeschmeckt, mit nur noch einem Tick Passionsfrucht im Hintergrund. „Wie ein dekadenter Schluck Kondensmilch in einem Earl-Grey-Tee", solle die Praline schmecken, sagt Daniel Budde; „würzig und mit einem Säurespiel wie ein halbreifer Rotwein." Sie soll keinen Rotwein in fester Form imitieren, sondern dessen Geschmackseindruck nachempfinden.
Bei mir ist es Liebe auf den ersten Biss. Gibt es die im „Orania" auch ohne Übernachtung, einzeln, zum Kaffee? Das würde ich dort glatt so bestellen. Die beiden „Candide"-Besitzer, ebenso unverbesserliche Optimisten wie die gleichnamige Hauptfigur in Voltaires satirischer Novelle, denken jedenfalls für die mittelferne Zukunft über einen größeren Produktionsstandort mit einem eigenen Café nach. „Das wäre schon eine coole Sache: Kaffee und Pralinen und Desserts von Daniel an einem Ort", schwärmt O’Connor.
Schokolade lehrt Langsamkeit
Daniel Budde wäre mit seinem handwerklichen Können und seiner Kreativität allemal der Richtige, der den Berlinern feines Schokoladen-Naschwerk jenseits üblicher, maschinell gefüllter Hohlkörper nahebringen kann. Der 29-Jährige ist gelernter Confiseur und Patissier, der „in einem ganz bodenständigen Café" seine Ausbildung machte. Er arbeitete als Fine-Dining-Patissier im „Hotel Adlon" und „Ewigkeiten", wie er sagt, bei Tim Raue. Im Anschluss an sein „Food Studies"-Studium in Münster ging er zum Food-Start-up „Eat First" in Berlin. Darüber lernte er O’Connor kennen, der schon sein „Pignut Barbecue" neben dem Gesang hatte. Heute betreiben O’Connor und Budde beide Unternehmen gemeinsam, aber jeweils als eigenständige Betriebe. „Ich habe im Laufe der Zeit ein immer genaueres Bild davon bekommen, was ich sehe und was ich sehen kann", sagt Budde.
Offenkundig war es etwas, in dem Kakaobohnen und eine gewisse Süße meist eine tragende Rolle spielen. Und so wie beim literarischen Candide führte das zu lebensklugen Erkenntnissen: „Schokolade lehrt einen Langsamkeit", weiß Budde. Jeder Schritt hat sein eigenes Tempo. Man muss sich eben Zeit nehmen: Das gilt fürs Pralinenmachen ebenso wie für den Genuss.