Das eigene Leben sollte man sich von niemandem vorschreiben lassen
Mein Name ist Christian, ich bin 35 Jahre alt. Meine Frau und ich haben nur ein Kind, kein Haus, fahren maximal einmal im Jahr für fünf Tage in Urlaub, sind selbstständig und echt glücklich." So stelle ich mir meine Einstiegsfloskel vor, im Club der Anonymen Glücklichen. Alles entspricht der Wahrheit und macht mich doch zum Außenseiter. „Wie, ihr wollt kein Kind mehr?!", „Was, ihr habt noch kein Haus?!" Und gleich im Anschluss: „Aber ihr wollt doch noch oder?" Um es ganz kurz zu machen: Nö.
Wie geht Leben heute? Abi mit 17, studieren bis 21 und dann rauf auf die Karriereleiter. Immer zwei Sprossen auf einmal. Sobald das erste dicke Gehalt geflossen ist, wird eine Mietwohnung bezogen, viel gereist. Man muss das Leben schließlich noch auskosten. Bevor die beiden Kinder – Junge und Mädchen – mit exakt zweieinhalb Jahren Altersabstand da sind. Zweieinhalb passt am besten in den Lebensplan, weil das erste Kind aus dem Gröbsten raus ist. Papa nimmt dann wieder die zwei Monate Alibi-Elternzeit. Macht man so. Man ist ja emanzipiert. Dann heißt es wieder: morgens früh aus dem Haus, abends spät nachhause. Irgendwie muss sich der Wohlfühltempel im Neubaugebiet ja finanzieren.
Zum Glück gibt es die Wochenenden. Und die werden dann richtig ausgekostet – als Familie. Samstags wird gestritten, weil während der Woche keine Zeit zum Reden ist und Mama endlich mal in Ruhe duschen will oder aufs Klo. Papa schaut unterdessen nach den Kindern. Und ist von seinem 60-Stunden-Job so ausgepowert, dass er am liebsten umfallen würde. Wochenende heißt aber Familienzeit. Oder – würg – „Quality-Time". Also: Augen zu und durch.
Dann ist wieder Montag. Nur noch fünf Tage bis zum Wochenende. Nur noch drei Wochen, dann steht der Skiurlaub an. Noch ein bisschen Zähne zusammenbeißen, und: endlich Sommerferien! Noch mehr Quality-Time, noch mehr Streit, noch mehr „Erholung", die nach dem ersten Arbeitstag verpufft, weil sie – Überraschung! – nur oberflächlich war.
Ich würde gern sagen, das alles sei überspitzt dargestellt. Doch ich befürchte, viele um mich herum leben ein solches Leben. Die Nachbarn und ihr Bankkonto im Blick, sich selbst aber komplett aus den Augen verloren. Es ist kein Wunder, dass eine ganze Generation auszubrennen droht. Das Heute hat keinen Wert, wenn es morgen noch schneller, noch höher hinausgehen kann. Stillstand heißt Tod, keine Ziele zu haben, planlos. Und sind die Berge erklommen, die To-do-Listen abgehakt, bleibt nach zwei Minuten Euphorie gähnende Leere. Licht aus, niemand zuhause.
Als Selbstständiger arbeite auch ich sehr viel. Doch weil ich liebe, was ich tue, weil ich mir alles einteilen kann, wie ich will, strengt es mich nicht an. Ich wähle meine Auszeiten selbst. Zu jedem Zeitpunkt bin ich mir bewusst darüber, was ich tue und warum. Verrückt, was? Kurz: Ich habe die Verantwortung für mein Leben übernommen. Habe mitten in all dem Tun und Kaufen und Rennen entschieden anzuhalten. Habe aufgehört, den Spiegel zu schrubben, wenn ich eigentlich Essensreste im Mundwinkel hatte. Das erste Mundabwischen war holprig, das zweite befreiend, das dritte beflügelnd.
Manchmal würde ich meinen Altersgenossen gern zurufen: „Kündigt eure Jobs, verkauft eure Neubauvillen und fangt endlich an, euch selbst den Mund abzuwischen." Ich sage nicht, dass man selbstständig sein muss, um zufrieden zu sein. Dass man sich kein Haus kaufen oder bauen sollte. Das wäre vermessen. Aber viele, die mit Scheuklappen im Hamsterrad laufen und unbeseelt Dinge tun, als wären es Punkte auf einer Checkliste, würden erschrecken, wenn sie einen wachen, ehrlichen, schonungslosen Blick auf ihr Leben werfen würden.
Hört auf, das Leben von anderen zu leben. Dinge zu tun und zu kaufen, weil „man" das eben so tut. Am Ende läuft alles auf eine Sache hinaus: Zeit gibt euch niemand zurück. Steigt aus. Wie wär’s mit jetzt?