Im Land der Dichter und Denker findet sich nicht allzu häufig eine Ausstellung, die einem Schriftsteller oder einer Schriftstellerin gewidmet ist. Im oberbayrischen Murnau am Staffelsee hat man dem Dramatiker Ödön von Horváth im Schloßmuseum eine Dauerausstellung eingerichtet.
Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu." Dieser Satz mag auch demjenigen schon einmal begegnet sein, der mit dem Namen Ödön von Horváth wenig anzufangen weiß.
Er offenbart, dass Horváth ein Menschenkenner gewesen ist, einer, der den Zwiespalt in der menschlichen Seele auszuloten verstand, einer, der seine literarischen Werke dem Leben abgelauscht haben muss. Die Selbsterkenntnis entstammt „Zur schönen Aussicht", einem seiner Bühnenstücke, das ebenso wie „Die Bergbahn", „Italienische Nacht", „Kasimir und Karoline" und auch „Glaube Liebe Hoffnung" im Voralpenland entstand. Horváth fand in dieser Region die Vorbilder für die Personage seiner Stücke über die er Auskunft gibt: „Es soll gezeigt werden, wie tragische Ereignisse sich im Alltag oft in eine komische Form kleiden."
Vor 80 Jahren, am 1. Juni 1938, starb Ödön von Horváth in Paris, auf der Straße erschlagen von einem herabstürzenden Ast. In Murnau benötigt man keinen Gedenktag, um an den bedeutenden Schriftsteller zu erinnern. Er ist nicht einmal „Sohn der Marktes Murnau". Geboren wurde er 1901 in Fiume/Ungarn (heute: Rijeka/Kroatien). Murnau war zwischen 1926 und 1934 sein fester Wohnsitz. Im obersten Stockwerk des Schloßmuseums ist ein Raum für ihn reserviert, dessen Exponate nicht nur mit dem Dichter vertraut machen, sondern gleichzeitig ein Kapitel deutscher Geschichte näherbringen.
Vorbilder aus der Voralpenregion
Das Schloßmuseum Murnau – 1995 mit dem bayrischen Museumspreis ausgezeichnet – beherbergt Werke von Gabriele Münter sowie der Künstlergruppe „Der Blaue Reiter", eine Sammlung von Hinterglaskunst, Landschaftsmalerei der Region, eine Schau zu „Gewerbe und Hausgewerbe Markt Murnau" und die Dokumentation „Ödön von Horváth und Murnau" zu Leben und Werk des Schriftstellers und Dramatikers.
Wer den langgezogenen Raum der Dauerausstellung betritt, dem fallen der ungewöhnliche, mittig platzierte Tisch und das hölzerne mächtige Dachgebälk, das darüber thront, auf. Eine angenehme, geradezu behagliche Atmosphäre umfängt den Besucher, das ist gut, denn man möchte sich länger aufhalten: Es gibt viel zu lesen, zu hören, zu sehen.
An der Wand überfliege ich die biografischen Angaben. Budapest, München, Murnau, Berlin, Wien, Salzburg, Paris – ein großbürgerlicher Kosmopolit. Exil, Flucht, Heimatlosigkeit – ein Schriftstellerleben unter Bedrohung.
Um am Ausstellungstisch chronologisch voranzukommen, suche ich die Stelle zum Einstieg und bemerke, dass der Tisch einzigartig konstruiert ist. Die gläserne Tischfläche erlaubt Durchsicht in mehrere darunterliegende Etagen.
Das Schaukastensystem lässt sich verschieben. Man kann die Einsichten und Durchsichten erweitern. Der Besucher bleibt aktiv und bestimmt selbst, wie viel er erfahren möchte. Mit dieser klugen Konstruktion wurde der Museumsraum zudem flächenmäßig erweitert.
Die Reise beginnt mit Kapitel eins, „Sommerfrische", und bietet Gelegenheit, über die Anfänge des Tourismus nachzudenken – Staunen inklusive: „Murnau entwickelt sich ab 1878 zur Fremdenverkehrshochburg; 1881: 508 Urlauber. 40 Jahre später: 2.468 bei 3.000 Einwohnern." Wie kam Ödön von Horváth nach Murnau? Ein Ausflug führte den Ministerialrat Dr. Edmund von Horváth samt Frau und Söhne nach Murnau am Staffelsee. Ein Grundstück wurde erworben, ein Landhaus erbaut, fortan als Sommersitz genutzt.
Wer gerne alte schwarzweiße Fotos betrachtet, freut sich. Fotos aus den 20er-Jahren: beim Baden mit Freunden im Murnauer Strandbad, Eislaufen beim Staffelsee, beim Eisstockschießen. Junge Menschen, die fröhlich ihre Freizeit verbringen. Ein Leben im Idyll?
Spannende Erkundung
Ein Zeitungsausschnitt berichtet Unvermutetes. Lokale Nachrichten, Murnau am Staffelsee, 27. Oktober 1928: „Die Mörder Heidger und ihr Komplice Lindemann als Sommerfrischler am Staffelsee." Das Strandhotel war Tauchstation für Kriminelle! Bin ich in einen Krimi geraten?
Der Stücktitel „Zur schönen Aussicht" bezeichnet ein Hotel, das es wirklich gegeben hat. Dessen Reklame lässt mich schmunzeln: „Hotel und Café-Restaurant ‚Zur schönen Aussicht‘, Murnau, Bahnhofstraße 85 a, Schöne Fremdenzimmer mit vorzüglichen Betten. Herrliche Aussicht auf See und Gebirge. Schöner Restaurationsgarten. Elektrisches Licht. Telephon und Bäder im Hause. Mäßige Preise." Der ehemalige Pächter des Strandhotels Heinz Reichhard ist Vorbild für die Figur des Strasser in Horváths „Zur schönen Aussicht", darin kommen zudem ein Kellner, ein Krimineller, eine liebeshungrige Baronin und eine hintergangene Bürgertochter vor.
Horváth war gerne und häufig Gast in Murnauer Cafés, Gaststätten und Biergärten. Dort schrieb er auf, was er beobachtete. Seine Notizbücher mit handschriftlichen Aufzeichnungen sind erhalten. Die Originale sowie Briefe und Typoskripte werden im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien aufbewahrt. In Murnau betrachte ich Faksimile.
Die Puzzleteile fügen sich in meinem Kopf zusammen. Was am Beispiel der Entstehungsgeschichte von „Zur schönen Aussicht" gelingt, lässt sich für andere Werke ähnlich nachvollziehen.
Ich höre Gemurmel und Gelächter. Dabei bin ich gerade alleine im Literaturmuseum unterm Dach. Am anderen Ende des Raumes hat man eine Fototapete mit lustig dreinschauenden Wirtshausgästen aufgeklebt sowie ein bühnenartiges kleines Podest mit Stuhl und Tisch, wie sie früher in Gartenwirtschaften zu finden waren, aufgebaut und spielt die dazugehörende Geräuschkulisse ein. In der Nähe sind zwei Hörstationen samt Kopfhörer installiert für den, der Horváth-Texten lauschen möchte.
Viel Sorgfalt und Bedacht hat man auf Einrichtung und Zusammenstellung der Exponate gelegt. Entstanden ist ein einzigartiger Ort, der den Dichter Horváth ehrt und den Besucher auf eine spannende Erkundungsreise einlädt.
Ich lese die charmante Beschreibung der Liaison mit Felizia Seyd (1900-1992), Horváths Geliebter von 1924 – aufgeschrieben im Jahre 1979: „Was wir
gemeinsam hatten, war unsere Liebe für Lyrik und Märchen und ‚all things phantastic‘ und grüne Wiesen und die Natur."
In Kapitel zwei, „Berlin und zurück", versetzen mich abermals Zahlen in Erstaunen. Im Berlin der 20er-Jahre erschienen 2.633 Zeitschriften und Journale sowie 147 Tageszeitungen. Horváth notiert: „(…) das Land lässt der Stadt den Vortritt, und für mich als junger Dichter ist dies natürlich wichtig, dieser persönliche Eindruck von diesem Wandel des Bewußtseins." Seine Stücke erlebten an Berlin Bühnen, darunter das „Theater am Schiffbauerdamm", ihre Uraufführung, auch schrieb er Kolumnen für Berliner Zeitungen.
Kapitel drei beleuchtet Horváths „Gesuch um Einbürgerung". Der Murnauer Gemeinderat lehnte dieses 1927 mit sieben zu sechs Stimmen wegen des fehlenden Nachweises, sich „dauernd selbstständig" ernähren zu können, ab. Er notiert: „Ich habe keine Heimat und leide natürlich nicht darunter, sondern freue mich meiner Heimatlosigkeit, denn sie befreit mich von einer unnötigen Sentimentalität. Ich kenne aber freilich Landschaften, Städte und Zimmer, wo ich mich zuhause fühle."
„Unsere Heimat ist der Geist"
Kapitel vier, „Schreiborte", wird von einer ungarischen Reiseschreibmaschine, wie sie Horváth besessen haben könnte, präsentiert. In Kapitel fünf, „Bauerntheater in Murnau und am Tegnersee", zeigt sich der Autor selbstbewusst: „Ich verstehe ja die Wut: ganz Bayern bringt seit 1914 keinen Dramatiker heraus und nun kommt ausgerechnet ein ‚Ausländer‘, der ein ‚bodenständiges‘ Stück schreibt! Das einzige, das die Bayern haben."
Kapitel sechs, „Gaststätten, Biergärten, Aussichtscafés", berichtet über die Saalschlacht von 1931. In der Gaststätte Kirchmeir hatte die SPD zu einer Veranstaltung mit dem Thema „Demokratie oder Diktatur" geladen. Sowohl Angereiste als auch ortsansässige Nationalsozialisten sprengten die Versammlung – es kam zur Schlägerei. Horváth sagte als Zeuge gegen Murnauer NSDAPler aus. Beim Prozess wurden fast alle angeklagten Nationalsozialisten freigesprochen.
Beim Betrachten der Fotos zu Kapitel sieben „Auf der Straße" fühle ich, wie mir kalt wird beim Entziffern eines Transparents zum Aufmarsch der Hitler-Jugend in Murnau 1934: „Wir sind zum Sterben für Deutschland geboren."
Kapitel acht, „Flucht aus Murnau", zeichnet den Streit zwischen Horváth und SA-Männern im „Hotel Post" nach. Am 10. Februar 1933 fand eine Direktübertragung der Rede von Reichskanzler Hitler im Radio statt. Horváth verlangte, das Radio abzustellen, was die anwesenden Nationalsozialisten provozierte. Als ein SA-Trupp die Villa der Eltern durchsucht, verlässt Horváth Deutschland. 1934 trat er in den „Reichsverband Deutscher Schriftsteller" ein, verfasste Filmdrehbücher, hält sich kurze Zeit damit über Wasser. In Murnau gilt er als flüchtiger Kommunist.
Kapitel neun, „Die letzten Jahre", zeigt: Er lebt in Wien und Salzburg. „Jugend ohne Gott", 1937 im Exil-Verlag Allert de Lange in Amsterdam erschienen, wird zum internationalen Erfolg und in mehrere Sprachen übersetzt. In Deutschland bleibt das nicht unbemerkt. Aus dem „Reichsverband Deutscher Schriftsteller" wird er ausgeschlossen.
Ich lese einen Brief, abgeschickt von der Geheimen Staatspolizei, gerichtet an den „Herren Präsidenten der Reichsschriftumskammer" in Berlin mit der „Bitte", das Buch „wegen seiner pazifistischen Tendenz auf die Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums zu setzen."
Daneben liegt eine Ausgabe des unerwünschten Romans. Ich weiß von Berufsverboten und Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten, aber die Betrachtung des Schriftstückes erreicht mich mit emotionaler Direktheit. Liegen achtzig Jahre lange zurück? Oder fühlt es sich so an, als ob diese Zeit doch nicht so lang her ist?
In einem Brief an einen Freund schreibt Horváth 1938: „Gott, was sind das für Zeiten! (…) Man müsste ein Nestroy sein, um das alles definieren zu können, (…) Die Hauptsache ist: Arbeiten! So lange gehen wir auch nicht unter, so lange werden wir auch immer Freunde haben und immer eine Heimat, überall eine Heimat, denn wir tragen sie mit uns – unsere Heimat ist der Geist."