Klimawende ist auch Wärmewende: das zeigt sich vor allem in Europas größtem Fernwärmenetz in Berlin. Betreiber Vattenfall gefällt sich in der Rolle des Vorreiters der „Dekarbonisierung". Wie in vielen deutschen Großstädten steht diese auch hier auf der Tagesordnung.
uch stillgelegte Straßentunnel kann man manchmal noch brauchen. Jahrzehnte lag ein solcher unter einer Verkehrsader im Berliner Stadtteil Schöneberg versteckt – ungenutzt. Nun hat das Energieunternehmen Vattenfall ihn gekauft, um Fernwärmeleitungen und eine Pumpstation darin zu bauen. „Wir sind froh, wenn sich uns solche Chancen bieten. Denn Platz ist knapp in Berlin", sagt Gunther Müller, Chef der Vattenfall-Wärmesparte.
2.000 Netzkilometer für 500.000 Wohnungen
Berlin ist, wie andere Großstädte auch, durchzogen von vielen Leitungen, darunter auch ein großes Netz aus etwa einen halben Meter dicken, gut isolierten Rohren, durch die unter hohem Druck heißes Wasser jagt. Dieses Netz versorgt über eine halbe Million Wohnungen mit Wärme, zum Heizen und für Warmwasser zum Baden und Duschen. Über 100 Millionen Euro investiert das Unternehmen derzeit in Berlin, um die Leitungen auf Vordermann zu bringen und das Netz zu erweitern. Allein in der Netz-Großbaustelle im Stadtteil Schöneberg sollen 2.200 Wohneinheiten demnächst an neue Leitungen angeschlossen werden. Bislang hatte die Karte des Leitungsnetzes hier noch große weiße Flecken. Mit knapp 2.000 Kilometern ist das Berliner Fernwärmenetz das längste in der EU, etwa gleich lang wie das in Warschau. Jährlich wächst es um etwa 20 Kilometer.
Jeder dritte Haushalt in Berlin hat einen Fernwärmeanschluss, hinzukommen noch Großverbraucher wie Fabriken und Krankenhäuser. Kommt die Wärme als Fertigprodukt direkt ins Haus, muss sie nicht erst im Keller aus Öl, Gas, Strom oder gar Kohle erzeugt werden. Bei großen Neubauprojekten ist die Fernwärme daher beliebt. Bei Altbauten, vor allem im Westen der Stadt, die meist mit Öl oder Gas beheizt werden, muss Vattenfall dagegen einen harten Überzeugungskampf, quasi von Haus zu Haus, führen. Alte, abgeschriebene Kessel oder Etagenheizungen sind im Verbrauch immer noch günstiger, jedenfalls bei den gegenwärtigen Preisen. Obwohl der Ölpreis in den vergangenen Monaten wieder gestiegen ist, sind Öl – und Gas – doch immer noch günstig.
Seit Anfang des Jahres hat Vattenfall ein gutes Argument mehr, um Hausbesitzer zur Umstellung zu bewegen: Die rot-rot-grüne Landesregierung hat ein ehrgeiziges Klimakonzept verabschiedet, bei dem die Fernwärme eine wichtige Rolle spielt. Das Schlüsselwort darin lautet „Dekarbonisierung": Die Verbrennung fossiler Energien soll bis zur Jahresmitte in der Stadt praktisch eingestellt werden. Das betrifft nicht nur die großen Kohlekraftwerke und den Autoverkehr, sondern auch die meisten Wohnhäuser: Noch immer befinden sich Hunderttausende Öl- und Gaskessel in Berliner Kellern. Sie verbrennen Kohlenstoff und passen daher nicht zum Ziel einer „dekarbonisierten" Stadt.
„Die Energiewende ist in der Großstadt Berlin vor allem auch eine Wärmewende", sagte Umweltstaatssekretär Stefan Tidow auf den Berliner Energietagen im Mai. „Berlin will bis Mitte des Jahrhunderts klimaneutral werden". Dazu habe das Land ein ehrgeiziges Klimaschutzkonzept verabschiedet mit über 100 Einzelmaßnahmen. „Als erstes Bundesland hat Berlin sich formell verpflichtet, bis 2030 aus der Kohleverbrennung auszusteigen", so Tidow. Die Sanierung von Häusern soll beschleunigt werden. Das Klimaschutzkonzept sieht außerdem langfristig den Ausbau der Fernwärme vor. 2050 soll jeder zweite Haushalt mit Fernwärme versorgt sein.
Vattenfall, die deutsche Tochter des schwedischen Staatskonzerns, gefällt sich gut in der Rolle eines Hauptakteurs der Wärmewende. Man will schließlich auch das durchaus lukrative Wärmenetz langfristig behalten. „Die Zusage an den Senat, bis 2030 aus der Kohle auszusteigen, halten wir ein", sagt Vattenfall-Wärmevorstand Gunther Müller. Vergangenes Jahr hat Vattenfall daher bereits das Braunkohlekraftwerk Klingenberg im Osten der Stadt auf Erdgas umgestellt. Gas ist deutlich weniger klimaschädlich als Braunkohle.
Auf ein Projekt ist Müller besonders stolz: Im Berliner Bezirk Spandau baut Vattenfall in ein Steinkohlekraftwerk eine sogenannte Power-to-heat-Anlage ein. Das ist ein sehr großer Tauchsieder, der das Wasser für die Fernwärme mit Strom erhitzt. Wärme aus Strom galt jahrzehntelang als Verschwendung, aber dank Energiewende denkt man da um: „Wenn viel Windstrom vorhanden ist, können wir damit günstig Wärme erzeugen, und die sonst verlorene Energie wird gut für die Wärmeerzeugung genutzt", sagt Müller.
Fernwärme gilt Klimaschützten als grundsätzlich gute und effiziente Energieform. Sie wurde in Berlin einst auch erfunden: Bereits 1911, lange vor der Klimadebatte, wurde in der Stadt ein Gebäude ferngewärmt: das Charlottenburger Rathaus. So träumen Klimaschützer oft von „Quartierskonzepten", wo sich Gruppen von Hauseigentümer zusammentun und gemeinsam Strom und Energie erzeugen. Das ist effizienter und klimaschonender, als wenn jeder seinen eigenen Kessel im Keller hat. Allerdings hapert es dabei oft an wirtschaftlichen Konzepten und der komplizierten Abstimmung unter allen Beteiligten. Ein Konzern wie Vattenfall kann da ganz anders agieren.
Vattenfall betreibt noch drei Kohlekraftwerke
So setzt der Konzern nun zum einen auf den Netzausbau, zum anderen langfristig auf die Senkung des Kohledioxids bei der Erzeugung seiner Wärme. Dazu gehört nicht nur der Umstieg von Kohle auf Gas, sondern auch der Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen wie Holz. Das hilft auch bei der Überzeugungsarbeit: Denn beim Neubau von Häusern gilt: Je „grüner", also klimafreundlicher die Energie, mit der das Haus geheizt wird, desto weniger teure Dämmung ist vom Gesetzgeber vorgeschrieben. Dann kann die Fernwärme sogar etwas teurer sein, wenn die entsprechenden Baukosten für den Bauherr dafür günstiger ausfallen.
Dabei dreht sich alles um einen kniffligen Indikator, den „Primärenergiefaktor". Er gibt an, wieviel Kohlendioxid pro Energiemenge anfällt. Vor wenigen Jahren kannte den noch kein Mensch, heute wird er bei jedem Bauprojekt als erstes diskutiert. Bei Vattenfall liegt der Faktor im Berliner Fernwärmenetz bei 0,45. Heizöl und Erdgas liegen mit einem Faktor von 1,1 zweieinhalbmal so hoch. „Den Wert erreichen wir vor allem durch den hohen Anteil der Kraftwärmekopplung, also der gemeinsamen Strom- und Wärmeerzeugung", sagt Müller. Der Wert ist gut, aber andere, wie der Konkurrent BTB im Südosten Berlins, können sogar noch mehr: Deren Primärenergiefaktor liegt nur bei 0,25.
Klimaschützer können sich trotzdem nicht so einfach anfreunden mit Vattenfall. Ist es doch ein großer Konzern, der kleinen Initiativen und Bürgerenergiegenossenschaften gegenüber nicht besonders offen ist. „Sie könnten noch schneller aus der Kohle aussteigen. Die drei Kohlekraftwerke von Vattenfall stoßen jedes Jahr 3,8 Millionen Tonnen Kohlendioxid aus. Gemessen am Pariser Klimavertrag sollte Berlin da nicht bis 2030 warten. Und in Sachen Demokratie und Partizipation ist Vattenfall kein Vorzeigeunternehmen", kritisiert Anna Schüler von der Organisation Kohleausstieg Berlin. Die Frage bleibt unter den Klimaschützern weiter umstritten: Können Großkonzerne wirklich Klimaschutz? Hier muss Vattenfall doch noch Überzeugungsarbeit leisten.