Einsamkeit gehört noch immer zu den weithin meist unterschätzten Ursachen für eine ganze Reihe von psychischen und auch physischen Krankheiten. Sie kann zu einem gravierenden Gesundheitsproblem werden.
Vor einigen Jahren hatte die Londoner Tageszeitung „The Guardian" Großbritannien nach Auswertung nationaler Statistik-Daten als „Hochburg der Einsamkeit" bezeichnet. Daran scheint sich bis heute nichts geändert zu haben. Denn laut Angaben des Roten Kreuzes fühlen sich neun Millionen von insgesamt 66 Millionen Briten, also rund 13 Prozent der Bevölkerung, immer oder häufig einsam. Die Hälfte der über 75-Jährigen lebe demnach allein, etwa 200.000 Senioren hätten höchstens einmal im Monat ein Gespräch mit einem Freund oder Verwandten.
Mit diesem eminenten gesellschaftlichen Problem hatte sich besonders die 2016 ermordete Labour-Abgeordnete Jo Cox beschäftigt und dafür eigens eine Kommission ins Leben gerufen. Der 2017 veröffentlichte Untersuchungsbericht dieser Kommission referierte die Ergebnisse früherer wissenschaftlicher Studien, wonach Einsamkeit ebenso gesundheitsschädlich sei wie der Konsum von täglich 15 Zigaretten. Zudem könne Einsamkeit Herzkrankheiten, Depressionen, Demenz, Angstzustände und weitere Krankheiten befördern. Angeregt durch das Engagement von Cox hat Premierministerin Theresa May („Einsamkeit ist die traurige Realität des modernen Lebens") Anfang 2018 ein geradezu poetisch klingendes „Ministry of Loneliness", also ein Ministerium für Einsamkeit, neu eingerichtet, das sich mit der vom Roten Kreuz als „Epidemie im Verborgenen" getauften Krankheit beschäftigten soll. Die für Sport und Zivilgesellschaft zuständige Staatssekretärin Tracey Crouch wurde mit dem neuen Ministeramt betraut und soll sich laut Vorgaben ihrer Chefin May bei ihrer Arbeit vor allem auf Senioren und deren pflegende Angehörige sowie Menschen, die den Verlust eines ihnen nahestehenden Menschen betrauern, kümmern.
Dem Beispiel Großbritanniens folgend, wurde auch im aktuellen Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD ein Passus aufgenommen, wonach sich auch in der Bundesrepublik künftig ein Regierungsbeauftragter speziell mit dem Thema Einsamkeit und Einsamkeitsschäden in der deutschen Gesellschaft beschäftigen soll. Angedacht ist aber keineswegs der Aufbau eines eigenen Ministeriums oder einer eigenen Behörde, sondern die Etablierung einer Sonderzuständigkeit beim Gesundheits- (SPD-Wunsch) oder Familienministerium (Unions-Vorstellung). „Die Einsamkeit in der Lebensphase über 60 erhöht die Sterblichkeit so sehr wie starkes Rauchen", sagt SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach.
„Erhöht Sterblichkeit wie starkes Rauchen"
Aber nicht mehr nur die Alten sind von Einsamkeit betroffen, wie eine 2016 unter Leitung von Prof. Maike Luhmann, Psychologin an der Bochumer Ruhr-Universität, veröffentlichte repräsentative Studie zum Phänomen Einsamkeit in Deutschland bereits belegt hat. Demnach ist Einsamkeit ein recht häufiges Phänomen – und zwar durch die gesamte Bevölkerung, je nach Altersgruppe sind zehn bis 15 Prozent davon betroffen. Traurige Spitzenwerte gibt es bei den über 85-Jährigen, bei denen 20 Prozent oder jeder Fünfte über Vereinsamung klagt. Aber auch Menschen in der Lebensmitte (46 bis 55 Jahre, 14 Prozent) und jüngere Erwachsene (26 bis 35 Jahre, 14,8 Prozent) fühlen sich häufig einsam. Am wenigsten betroffen sind die jüngeren Alten (66 bis 75 Jahre, 9,9 Prozent). „Einsamkeit tritt in jeder Altersgruppe auf", erklärt Luhmann. „Einsamkeit ist etwas anderes als Alleinsein." Nämlich „das Gefühl, dass man weniger soziale Kontakte hat, als man gerne hätte". Dennoch solle Einsamkeit (obwohl eigentlich ein ausschließlich negativ konnotierter Begriff) „erstmal positiv gesehen werden: Es ist ein Signal der Psyche, dass etwas nicht stimmt und dass man etwas tun sollte. Erst wenn es chronisch wird, wird es wirklich zum Problem". Allerdings gebe es, erklärt Luhmann, keine offizielle Diagnose für Einsamkeit und daher auch keinen messbaren Wert, ab dem jemand definitiv als einsam einzustufen ist. Es handele sich vielmehr grundsätzlich um eine ganz subjektive Einschätzung.
Prof. Manfred Spitzer, Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm, warnt in seinem aktuellen Buch „Einsamkeit, die unerkannte Krankheit" vor den gravierenden Folgen, die das Phänomen seiner Meinung nach auf Körper und Seele der Betroffenen haben können. Seine aus den Ergebnissen vieler Studien abgeleitete These: Wer einsam ist, erkrankt weitaus häufiger als andere Menschen beispielsweise an Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall, Depressionen oder Demenz. Zudem breite sich Einsamkeit gleichsam wie eine Epidemie aus – man könne bereits jetzt von einem Megatrend sprechen. Wobei wegen der sozialen Medien auch jüngere Menschen immer stärker betroffen sind. „Die Digitalisierung bringt Menschen nicht zusammen, sondern bewirkt Unzufriedenheit, Depression und Einsamkeit", erklärt Spitzer. Auch das Mitgefühl, die Empathie und die Fähigkeit zur Einnahme der Perspektive anderer haben laut Spitzer innerhalb der letzten drei Jahrzehnte deutlich abgenommen. Die Menschen kümmerten sich schlichtweg weniger umeinander und legten weniger Wert auf Gemeinschaft wie früher. Logische Folge: Die Einsamkeit nimmt zu.
Durch Einsamkeit steige, so Spitzer, die Wahrscheinlichkeit etwa von Schlafstörungen und Infektionskrankheiten. Auch Krebs und psychische Krankheiten könnten begünstigt werden. Allerdings wird wohl kaum jemand Spitzer mehr folgen können, wenn dieser Einsamkeit gar in den westlichen Ländern zur „Todesursache Nummer eins" in einem Kapitel seines Buchs deklariert. Auch nicht Maike Luhmann. Sie konzediert, durchaus wissenschaftlich belegt ist, dass Einsamkeit zu gravierenden psychischen und körperlichen Gesundheitsproblemen führen könne. „Chronisch einsame Menschen werden eher depressiv", sagt Luhmann, „entwickeln eher Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems und sterben sogar früher im Vergleich zu nicht einsamen Menschen." Luhmanns Schätzungen zufolge sind zehn bis 20 Prozent der hiesigen Bevölkerung mindestens manchmal davon betroffen.
„Sich mehr um andere kümmern"
Seit Längerem gilt es als wissenschaftlich erwiesen, dass Personen, die unter ihrer Isolation leiden, in einem permanenten Stresszustand sind. Das geht mit einer Aktivierung des vegetativen Nervensystems und einer vermehrten Bildung von Stresshormonen wie Cortisol oder Adrenalin einher. Forscher rund um John Capioppo von der University of Chicago untersuchen schon seit Jahren die Mechanismen, wie das Gefühl der Einsamkeit seine schädliche Wirkung entfalten kann. Sie sind dabei auf einen Zusammenhang zwischen dem Gefühl der Einsamkeit und einem biologischen Phänomen namens Conserved Transcriptor Response of Adversity, kurz CTRA, gestoßen. Die weißen Blutzellen von einsamen Personen wiesen die gleichen Veränderungen auf, wie sie für CTRA ganz typisch sind. Bei CTRA ist in den Körperzellen die Aktivität von Genen, die bei Entzündungsprozessen involviert sind, erhöht, und die Aktivität von Erbanlagen, die zur Abwehr von Viren dienen, herabsetzt. Beide Veränderungen führen letztendlich zu einem geschwächten Immunsystem und einem Anstieg von Entzündungen im Körper.
Zur wirksamen Bekämpfung oder Überwindung der Einsamkeit gibt es natürlich kein Universalrezept. „Alle Handlungen, die uns einander näher bringen wirken gegen Einsamkeit", erklärt Spitzer. „Jeder Einzelne kann sich mehr um andere kümmern, und unsere Gesellschaft kann dem mehr Raum geben und für eine ‚artgerechtere’ – gemeinschaftsorientierte und damit menschlichere – Umgebung sorgen." Aus Sicht von Luhmann wäre es auf jeden Fall notwendig, die Rahmenbedingungen zu verbessern, um Betroffenen die Teilnahme am täglichen Leben zu erleichtern. „Auch die gezielte Förderung von Initiativen, die sich gezielt an einsame Menschen wenden, kann hilfreich sein", so Luhmann. „Und schließlich benötigen wir auch einen Ausbau der psychotherapeutischen Versorgung, denn Menschen, die schon lange chronisch einsam sind, kommen da häufig nicht mehr ohne professionelle Unterstützung raus."