Das Engadin im schweizerischen Kanton Graubünden ist Europas berühmteste Landschaft. Und mittendrin St. Moritz, Lieblingsort der Reichen.
Konzentriert sucht die Wanderführerin durchs Fernrohr die Sonnenhänge ab. Steinböcke und Gemsen kommen bis auf drei Meter heran, Steinadler kreisen lautlos über das Tal Trupchun, wunderbar! Die Luft ist wie Champagner im ältesten alpenländischen Nationalpark im Südostzipfel der Schweiz. Und beim Panorama bleibt dem Betrachter glatt die Spucke weg: Unter Bergfreunden gilt die Region um St. Moritz als das Gipfelparadies schlechthin.
Was macht das Engadin so anders? Ganz einfach: Dörfer und Seen liegen mindestens 1.700 Meter hoch; bis 2.000 Meter breiten sich Almen und Lärchenwälder aus. Und schlagartig wird’s hochalpin: Zum Greifen nah türmen sich wilde Gletscherbrüche neben gewaltigen Geröllhängen und Felswänden bis hinauf zum Bernina-Gipfel.
Dieser Kontrast macht das Graubündner Engadin am Inn zwischen Silvretta im Norden und Berninagruppe im Süden zur berühmtesten Landschaft Europas. Hier noch Heide und Blaubeermatten, dort schon Gletscherzunge und Felsabbruch; unten im Tal spiegeln sich die schneebedeckten Gipfel von Piz Nair und Corviglia im klaren Wasser der Oberengadiner Seenplatte.
Hohe Preise und beste Qualität
Aber da spiegelt sich doch noch etwas? Richtig: Am schmalen Ufer des Moritzer Sees drängen sich einige der teuersten Schweizer Hotels; die Flaniermeile zwischen „Café Hanselmann" und „Hauser’s Terrasse" ist verstopft mit Edelkarossen und gutbetuchten Gästen. Hier spricht niemand von Geld, man hat es. Es ist wohl wahr: Die Sonne, das Wahrzeichen von St. Moritz, leuchtet auch nachts – in 750er Gold, 18 Karat. Doch genauso ehrlich muss man zugeben, dass für die hohen Preise beste Qualität geboten wird – und jene prickelnde Champagner-Atmosphäre, die der Insider „ritzy" nennt – in ihrem Lieblingsort, der nicht viel größer als ein Dorf ist. Dafür ist der nächste Bergriese nie weit weg – St. Moritz ist von Dreitausendern umzingelt.
Die Bergbahn bringt die Wanderer auf die Corvatsch-Mittelstation in rund 2.700 Metern Höhe. Von dort aus sind die schneebedeckten Gipfel des 3.450 Meter hohen Piz Corvatsch und des Piz Bernina, Graubündens höchstem Berg mit über 4.000 Metern, zu sehen. Dennoch wachsen hier Edelweiß und blauer Enzian. Mit Blick auf eine überwältigende Szenerie führt der steile Abstieg ins Roseg-Tal auf 2.000 Meter. Nach all der Mühsal ist die zünftige Brotzeit und eine Kutschfahrt nach Pontresina eine Offenbarung.
Der nächste Morgen lockt Golfer auf die Greens in Zuoz-Madulain. Wanderer streifen in den Arven- und Lärchenwäldern der Talsohle, für Radler gilt das Motto: nicht quälen, genießen. Hilfe für die müden Glieder sind batteriebetriebene Stahlrösser, die Jung und Alt ohne Schweiß und Anstrengung jeden Bergpass hinaufbringen. Lässig werden Mountainbiker überholt und das knallrote Schmalspur-Bähnlein der Rhätischen Bahn gegrüßt, das sich auf spektakulären Linien von St. Moritz durchs Engadin schlängelt. Eine führt auf den Albula-Pass und weiter nach Chur, eine zweite über den Bernina ins Tessin. Beide zählen wegen ihrer Viadukte für Eisenbahn-Fans zu den schönsten Strecken der Welt.
Dorfkultur und Geschichte leben im Engadin: Vor über 130 Jahren erfanden hier spleenige Engländer den Urlaub und den Bergsport in den Alpen. Die alten Römer gar nutzten die Region als wichtigen Transitweg über die Alpen. In Zuoz, Celerina und Zernez erlebt man Dörfer, wie man sie sich wünscht: kompakt, urtümlich, verkehrsarm und doch lebendig. Es nötigt Respekt ab, wie gut sie vom Tourismus leben, aber trotzdem ihre Eigenständigkeit bewahrt haben. Hotels und Pensionen – bedeutend preiswerter als in Moritz und Arosa – verstecken sich zum großen Teil in den typischen, meterdicken Mauern mit ihren Graffiti-Verzierungen. Aus den Zimmern blickt man durch winzige Fenster auf schmale Gassen und opulente Brunnen, aus denen man heute noch Trinkwasser schöpfen kann.
Seen und Lichtungen laden zum Rasten ein. Am Abend nach einem anstrengendem Tag schmeckt das Bündnerfleisch oder das traditionelle Pjöda-Fleischfondue in der urgemütlichen Arvenstube einer Dorfwirtschaft doppelt so gut. Vorsicht bei dem süffigen Grappa: Er könnte schuld daran sein, dass die Beine beim nächsten Gipfelsturm oder dem Streifzug durch die Lärchenwälder so unendlich schwer sind.