Urteile ergehen „im Namen des Volkes" – das garantieren bei uns Laien, die als Schöffen die Berufsrichter unterstützen. Im Sommer werden neue Schöffen gewählt, die ab 2019 fünf Jahre lang im Amt sind. Was erwartet sie?
Was an dem Tag, zu dem er bestellt ist, auf ihn zukommt, weiß ein Schöffe erst, wenn er das Zimmer hinter dem Verhandlungssaal betreten hat. Meist sitzen der Richter oder die Richterin schon hinter einem Berg von Akten und erklären in kurzen Worten, worum es geht: um die Berufung nach einem Verkehrsunfall oder um einen Diebstahl beispielsweise. Dieses Hineinstoßen in die Materie ist gewollt. Denn Schöffen sollen vorurteilsfrei an den Prozess herangehen und sich erst während der Verhandlung ein Bild machen. Aktenstudium, juristische Vorbildung, die umfassende Kenntnis des Strafgesetzbuches werden nicht vorausgesetzt. Im Gegenteil: Schöffen sollen lediglich ihren „gesunden Menschenverstand" mitbringen. Und ihn in den jeweiligen Fall einfließen lassen.
Dass Laien ihre Lebenserfahrung, ihre Meinung mitbringen, ist durchaus sinnvoll: Zum Beispiel, wenn eine Richterin eine Geldstrafe für einen Jugendlichen mit Migrationshintergrund verhängen möchte, der einen anderen Jugendlichen übel beleidigt und getreten hat. Der Vater sitzt mit im Prozess und beteuert als Zeuge, sein Sohn habe nie etwas getan. Doch andere Zeugen können das Gegenteil belegen. Bei den Beratungen über das Urteil regt einer der Schöffen an, der Jugendliche solle doch besser Sozialstunden ableisten statt Geld zu zahlen. Die 1.000 Euro würde sowieso der Vater überweisen, nicht der Sohn. Die Richterin findet das gut, der Vorschlag wird angenommen. Der Angeklagte bekommt 100 Sozialstunden bei einem gemeinnützigen Verein aufgebrummt, die penibel nachgewiesen werden müssen.
In einem anderen Fall verhängt der Richter zwei Jahre Haft inklusive Entziehungskur für einen Mann, der seine Freundin totgeschlagen hat. Die beiden waren seit Jahren als Schwerstalkoholiker-Paar bekannt. Nur zwei Jahre für ein Menschenleben – das soll angemessen sein? Heftige Diskussionen der „Normalmenschen" mit dem Richter sind die Folge. Und dabei stellt sich heraus, dass der Jurist große Erfahrung in diesem Bereich hat, Trunkenheit und Ausmaß der Schuld wirklich besser beurteilen kann als ein Laie. Und auch, dass er einen Blick hat auf das, was vielleicht mehr hilft als ein langer Gefängnisaufenthalt: Das unbedingte Beharren auf einem streng kontrollierten Alkoholentzug fällt entsprechend ins Gewicht.
Anderer Fall: Ein Mann klaut einer Frau Geld, um Bier zu kaufen. Er behauptet, es war sein Geld. Sie sagt, er hat es geklaut. Die Sache ist völlig unklar, beide widersprechen sich. Was tun am Ende? Strafe für beide? Oder ein Verkehrsunfall: Ein Radfahrer wird von einem Auto touchiert, stürzt, das Rad geht zu Bruch, dem Radler ist nichts passiert. Wer ist schuld? Achtung, Vorurteil: Ist es wirklich „wie immer" der Autofahrer – oder hat der Radfahrer nicht aufgepasst?
Sie ist Vorbild für Entscheidungen: Die Dame Justitia ziert als Abbildung oder Statue viele Gerichtsgebäude. Mit verbundenen Augen trägt sie ernsten Gesichts ein Schwert in der einen und eine Waage in der anderen Hand. Ihre Blindheit bedeutet: Vorurteile und Sympathien oder Antipathien dürfen keine Rolle spielen. So steht es im Schöffen-Leitfaden. Was wünschenswert klingt, ist im konkreten Fall gar nicht so einfach. Selbst lang gediente Schöffen müssen sich diesen Grundsatz immer klarmachen.
Auch in der Zusammenarbeit mit den Richtern gilt: Gute Richter binden Schöffen ein, schlechte behandeln sie als Beiwerk, auf das man nicht weiter achten muss. Die meisten sind gute Richter. Sie erklären, was der Schöffe nicht versteht, reichen auch Akten weiter, damit die Hintergründe eines Falles verständlich werden. Und geben den Schöffen Zeit nachzufragen. Auch wenn Zeitdruck und Überlastung eine oft zu große Rolle spielen: Ein Schöffe spürt sie nicht, Richter mit einem übervollen Terminkalender dagegen schon.
Seit 1848 Korrektiv gegen Gutdünken
Meist sitzen Schöffen und Richter erhöht, alle anderen im Saal müssen nach oben blicken. Das soll Respekt einflößen. Doch die größte Distanz schafft die Sprache, die Richter und Staatsanwälte benutzen: Juristendeutsch. Formulierungen, denen weder der Beschuldigte noch das Publikum noch die Schöffen folgen können („gemäß Paragraf 333, Absatz 1"), voller Abkürzungen („StPO", „BtMG") und Fachausdrücke („Strafzumessungserwägung"). Juristen betonen gerne, dass sie nur in dieser Sprache Sachverhalte exakt erfassen können. Umso wichtiger ist es, dass ein Schöffe nachfragt, was mit den Wortungetümen eigentlich gemeint ist.
Prozesse sind auch schon wegen der Schöffen gescheitert: Wenn ein Schöffe eine unvorsichtige Frage an einen Zeugen gestellt hat, mit seiner Meinung über den Angeklagten nicht hinter dem Berg halten konnte oder in der Verhandlungspause mit dem Beschuldigten Absprachen traf. Wer so etwas tut, muss ausgetauscht werden, der Prozess wird dann neu aufgerollt. Im Allgemeinen – so die Erfahrung der meisten Richter – halten sich Schöffen jedoch zurück. Allenfalls diskutieren sie im Besprechungsraum mit dem Richter.
Es gibt Richter, die das Schöffenamt am liebsten abschaffen würden, weil sie es für unzeitgemäß halten. Einst hatte es etwas Revolutionäres: Eingeführt wurde es 1848 durch das emanzipierte Bürgertum. Denn bis Ende des 19. Jahrhundert sprachen überwiegend Juristen Recht, die aus der Oberschicht kamen oder von Fürsten und Königen eingesetzt wurden. Dementsprechend urteilten sie oft nach ihrem ganz persönlichen Recht, also nach Gutdünken. Um das zu verhindern, wurden ihnen Laien zur Seite gestellt.
Heute ist die Lage anders: Richter sind Menschen wie du und ich, spielen Fußball, haben Kinder, streiten mit den Nachbarn und gehen um die Ecke in die Kneipe. Braucht es da noch ein Korrektiv? Besser ist es schon, wenn möglichst viel „gesunder Menschenverstand" mit eine Rolle spielt. Nicht zufällig suchen allein die Berliner Gerichte pro Amtsperiode annähernd 6.000 Bürgerinnen und Bürger für dieses Ehrenamt: damit gemeinsam mit Berufsrichtern tatsächlich ein Urteil „im Namen des Volkes" gesprochen werden kann.